THEMA Der Blick der Kunst unter den Teppich Ulrike Streck-Plath bringt die Nazi-Vergangenheit künstlerisch wieder ans Licht Wenn etwas unter den Teppich gekehrt wurde, scheint es ver- schwunden zu sein. Doch wenn die nächste Generation auf diesem Tep- pich gehen soll, kommt sie ins Stolpern. So beschreibt es Ulrike Streck-Plath und sagt: „Ich muss den Teppich hochheben und es mir ansehen.” Nur so könnten die Dinge „in Frieden” gebracht werden. Ihr Weg dahin ist die Kunst. Als Streck-Plath die Beschreibung eines Todesmarsches am Ende der Nazizeit las, sei ihr klar geworden, dass sie das künstle- risch verarbeiten muss. Erst später stieß sie darauf, dass auch durch Maintal-Dörnig- heim, wo die 56-Jährige lebt, ein solcher Marsch geführt hatte. Ende März 1945 waren die Insassen des Frankfurter Kon- zentrationslagers Katzbach nach Buchen- wald getrieben worden – kaum jemand überlebte. In Dörnigheim sei das kaum noch bewusst gewesen, unter den Teppich ge- kehrt eben. Die Künstlerin entwickelte im Gespräch mit ihrem Mann, Pfarrer Dr. Martin Streck, die Idee für eine kollektive Performance: Sie filzte zwölf lebensgroße Figuren, die über Eisengestelle gezogen wurden. Am 25. März 2012, genau 67 Jahre nachdem der Todesmarsch durch Dörnig- heim gezogen war, standen die Figuren am selben Ort. Gäste waren aufgefordert, die Figuren in der Marschrichtung zu be- wegen – schweigend. Seitdem wurde die Performance in mehreren Städten entlang der historischen Strecke wiederholt. Dabei, erzählt die Künstlerin, sei es immer wieder zu berührenden Momen- ten gekommen. „Die Menschen fragen sich: ‚Wie trägt man die Figuren angemes- sen?’” Durch das Material hätten diese die Anmutung von Haut und Knochen. Meist würden sie mit großer Vorsicht und Demut getragen, in Hünfeld hätten Männer res- pektvoll ihre Hüte abgezogen. »Die Kunst berührt Menschen oft dort, wo sie es gar nicht wollen.« Dass Streck-Plath mit Filz arbeitet, ist kein Zufall. „Der Künstler sucht sein The- ma und sein Material”, beschreibt sie den Prozess. Bei einem Foto aus Auschwitz sei ihr klar geworden, dass es für sie Filz ist. Allerdings verwendet sie keinen Industrie- filz, wie etwa der documenta-Künstler Jo- seph Beuys es tat, sondern sie filzt selbst, was viel Arbeit bedeutet. Filz für eine der Performance-Figuren anzufertigen, brau- che zwei bis fünf Stunden, sagt sie. Inzwi- schen gibt es 45 solcher Figuren. Friedensbotschaft: Ulrike Streck-Plath arbeitet auch mit anderen Medien. Charakteristisch ist das stilisierte Gesicht der Figur und die durch Strahlen angedeutete Beziehung zum Himmel 12 blick in die kirche | MAGAZIN | Juli 2022 Ein schweres Thema in einem weichen Material, das mache die Verstrickungen besonders deutlich. Die Vergänglichkeit von Filz spiele eine Rolle, ebenso wie die Tatsache, dass sich Fehler bei der Herstel- lung kaum oder gar nicht mehr korrigieren ließen, oft gebe es Überraschungen. Die Hoffnung von Ulrike Streck-Plath ist, dass mit ihrer Kunst Dinge tatsächlich „in Frieden kommen“. Damit meint sie kei- nesfalls, dass die Geschehnisse vergessen werden sollten. Doch es gefiel ihr sehr, als ihr zwei Menschen nach der Performance unabhängig voneinander sagten, Dörnig- heim sei heller geworden. Ulrike Streck-Plath, die die Kunst nicht hauptberuflich macht, sieht alle Menschen als Schöpferwesen – das ist für sie auch die Verbindung zur Religion. Ihre Themen, auch in anderen Werken, liegen zwischen Leid und Geborgenheit. Die Sehnsucht nach völliger Geborgenheit erfülle sich auf Erden nicht, sagt sie. Und gerade ihr als fünfmaliger Mutter sei die Zerbrechlich- keit des Lebens stets bewusst: „Als Mutter weiß man von Anfang an: Ich kann dieses Kind verlieren.” All das lasse sich künstlerisch aus- drücken: „Die Kunst berührt Menschen oft dort, wo sie es gar nicht wollen.” Sie ermögliche es aber auch, „Ganzsein und Heilsein zu spüren” – also eine Verbindung zu Gott, zum „All-Eins”, wie sie sagt. Kunst, ist sie fest überzeugt, könne et- was zum Positiven verändern. Deswegen ärgert es sie auch, wenn Menschen die Fä- higkeit abgesprochen werde, selbst künst- lerisch tätig zu sein. „Macht”, lautet daher Ulrike Streck-Plaths Appell, „doch einfach Kunst!” ● Olaf Dellit ZUR PERSON Ulrike Streck-Plath (56) hat Kommunika- tionsdesign studiert und in Werbeagentu- ren gearbeitet, heute ist sie selbstständig. Mit ihrem Mann, Pfarrer Dr. Martin Streck, hat sie fünf Kinder. Neben der Kunst ist sie auch in der kirchlichen Chorarbeit tätig. Zur Künstlerin: www.ulrike-streck-plath.de Zum historischen Hintergrund des KZ Katzbach: www.kz-adlerwerke.de - l h t a P k c e r t S : k i f a r G