Blick auf Geschichte und Corona
Kirchenrat Dettmar: «Wenn es nochmal schlimmer würde, müssten wir uns auch damit zurechtfinden»

Drei Fragen an...
Kassel (medio). Kirchenrat und Dekan i. R. Werner Dettmar (91) feiert in diesem Jahr sein 65. Ordinationsjubiläum (1955). Der Jubilar war Präses der Landessynode, Dekan in Kassel und in vielfältiger Weise in und für die Landeskirche engagiert. Die ekkw.de-Onlineredaktion hat das Ordinationsjubiläum zum Anlass genommen und Kirchenrat Dettmar drei Fragen zu seiner Sicht auf die Geschichte und die aktuelle Situation gestellt. Die Fragen stelle Fotoredakteur Christian Schauderna im Oktober dieses Jahres. (09.12.2020)
Dettmar: Ich hatte zwei Gemeinden im Kirchenkreis Hofgeismar und habe dann in beiden beteiligten Gemeinden die alten Nazibürgermeister in die Kirche aufgenommen. Der eine war schon wieder als Bürgermeister in Mariendorf, er war so ein 133er, also diese Beamten, die in der Zeit der Rehabilitation nach Verordnung Nr. 133 wieder ins Amt gekommen waren. Ich dachte, der sei der Einzige, der lesen und schreiben könne, wie das auf den Dörfern so war.
Als wir in die Kirchenleitung kamen, haben wir nicht damit gerechnet, dass wir noch einmal eine Rente kriegen könnten. Erst gab es in den 1920er-Jahren eine Austrittswelle aus der Kirche durch die SPD, dann ab 1935 eine weitere in den Nazijahren. Da dachten wir: Mit der Kirche geht es langsam bergab. Und dann kam die adenauerische Restauration.
Nach dem Krieg wurde jeder Deutsche in der Entnazifizierung in Kategorien von «hauptschuldig» bis «nicht betroffen» eingeteilt. Eine Frage dabei war: «Sind Sie aus der Kirche ausgetreten?». Es traten nun nicht mehr so viele Menschen aus der Kirche aus, weil sie merkten: Davon habe ich einen Nachteil. Wenn Sie überlegen, wer sich alles in der Kirche tummelte: Es kamen ja auch die Offiziere wieder in die Kirche.
Ich habe 1948 Abitur gemacht, acht Tage nach der Währungsreform. Weil kein Geld da war, musste ich bei Henschel arbeiten. Als ich 1949 nach Marburg ging, hatte ich keine Ahnung vom Studieren. Ich hatte gerade noch ein Brot auf Brotmarke gekauft, das waren die letzten Zuckungen der Planwirtschaft, da traf ich einen aus einer ehemaligen Parallelklasse. Er hatte schon ein Semester hinter sich und hat mir dann unter die Arme gegriffen.
Als Pfarrer hatte ich dann eine Gemeinde die sehr aufgeschlossen war. Wir haben mit Teilen der Gemeinden Udenhausen und Mariendorf im Reinhardswald heute noch Verbindung.
Dettmar: So ganz einfach war es für die Geflüchteten damals nicht, so wie es heute für die nicht so einfach ist, die mussten sich auch nach der Decke strecken. Wir haben damals schon den katholischen Gläubigen, die kamen aus Groß-Tajax in Südmähren (Südungarn), Gottesdienste in unserer Kirche ermöglicht. Der eine brachte immer ein Säckchen mit Steinen mit, die stammten von einem geweihten katholischen Altar. Wenn er in meine Kirche ging, legte er die Steine auf den Altar. Naja, Altar kann man ja gar nicht sagen, die alten hessischen Kirchen hatten einen Bretterverschlag und ein schwarzes Tuch darüber. Also legte er sein Säckchen auf dieses Tuch, dann hatte er einen geweihten Altar. Für uns war das eher lustig.
Es gab einmal einen Motorradunfall, bei dem beide starben. Der eine war Katholik, den ich kurz vorher evangelisch getraut hatte. Ich schickte dann die evangelische Frau des katholischen Opfers zum katholischen Pfarrer. Doch der verweigerte die Beerdigung, also habe ich ihn beerdigt. Darüber hat sich der katholische Pfarrer dann bei mir beschwert. Das war die Ökumene, die ich damals gesehen habe.
Als ich später nach Kassel kam, war es selbstverständlich, dass wir ökumenische Trauungen hielten und ich hatte in Wilhelmshöhe einen prächtigen katholischen Kollegen, mit dem konnte man alles machen. Ich habe auch einmal auf seiner Kanzel gepredigt.
Dettmar: Weil ich selber verletzt war, ich hatte eine Oberschenkelfraktur durch einen Herz-Blackout, war ich nicht in der Versuchung dagegen zu opponieren, sondern hab mich an die Auflagen halten können. Hier in Kassel haben wir die Freude, dass wir hinter unserer Zionskirche einen großen Garten haben. Dort hat der Kollege Frank Nolte seine Gottesdienste gehalten, das war sehr schön. Wenn es nochmal schlimmer würde, müssten wir uns auch damit zurechtfinden, aber es ist gut, dass die Kolleginnen und Kollegen immer Schlupflöcher gefunden haben und der Betrieb weitergeht. Ich habe hier in Kassel eine Kirche mitgebaut, die Paul-Gerhardt Kirche, da ist viel Platz um die Menschen systemgerecht unterbringen zu können.
Was Gottesdienste im Freien angeht, haben wir eine gute Tradition: Ich war gut ein Vierteljahrhundert Pfarrer in Wilhelmshöhe und da haben wir im Sommer immer Gottesdienst in der Konzertmuschel im Bergpark gehalten. Auch die Kollegen in Kassel-Mitte kennen das von der Aue her. Im Winter geht das nicht, da müssen wieder andere Wege gefunden werden. Aber so erfinderisch, wie die Kollegen sind, werden wir wieder neue Möglichkeiten finden.
Zur Person:
Kirchenrat Werner Dettmar wurde am 21. April 1929 in Kassel geboren. Nach seinem Theologiestudium in Marburg (1949 – 1953) und dem anschließenden Vikariat in Albungen (Kirchenkreis Eschwege), Ziegenhain und am Predigerseminar in Hofgeismar (1953 – 1955) wurde er 1955 in Kassel ordiniert. Von 1955 bis 1961 war er Pfarrer in Mariendorf (Kirchenkreis Hofgeismar). Von 1961 bis 1968 war er als Pfarrer in der Kasseler Paul-Gerhardt-Kirche tätig. 1968 wurde er zum Dekan des Kirchenkreises Kassel-West berufen, ein Amt, das er bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand im Jahr 1992 innehatte.
Der ehemalige Präses der Landessynode engagierte sich mehr als 40 Jahre ehrenamtlich in der Interessenvertretung der Pfarrerschaft. Zwischen 1976 und 1987 hatte er den Vorsitz sowohl im hessischen Pfarrerverein als auch im Dachverband aller Pfarrervereine in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) inne. Dettmar war bis 1997 Schriftleiter des Deutschen Pfarrerblattes und von 1992 bis 1997 Geschäftsführer im Verlag Evangelischer Medienverband in Kassel. Hauptamtlich arbeitete er ab 1961 als Pfarrer in Kassel und amtierte von 1968 bis zu seiner Pensionierung Ende 1991 als Dekan im Kirchenkreis Kassel-West und Pfarrer an der Christuskirche. Dettmar, 1981 mit dem Ehrentitel Kirchenrat ausgezeichnet, gehörte der Landessynode von 1974 bis 1992 an, ab 1986 als Präses. Er vertrat die Landeskirche von 1977 bis 1996 in der Synode der EKD. Dettmar verstand sich als «Brückenbauer» innerhalb der Pfarrerschaft, setzte sich für Kontakte zu den Pfarrern in der DDR ein, organisierte den ersten französisch-deutschen Pfarrertag, förderte die Gründung der Konferenz Europäischer Pfarrervereine und war im christlich-jüdischen Dialog aktiv. 20 Jahre war er Vorsitzender des Evangelischen Presseverbandes in Kurhessen-Waldeck. Neben zahlreichen Veröffentlichungen verfasste er eine kurze Geschichte der Landeskirche. Die Stadt Kassel zeichnete Dettmar 1992 mit der Stadtmedaille aus.