Aktuell: «Ich sehe die Erschöpfung und auch den Schrecken, die Angst.» 2020-12-28 32016

Drei Fragen an Pflegedirektor und Klinikpfarrerin des Uni-Klinikums Marburg
«Ich sehe die Erschöpfung und auch den Schrecken, die Angst.»

«Ich sehe die Erschöpfung und auch den Schrecken, die Angst.»
Der Gesundheitszustand von an Covid 19 erkrankten Menschen kann sich innerhalb weniger Minuten so sehr verändern, dass sie auf eine Intensivstation verlegt und beatmet werden müssen. Diese Unberechenbarkeit des Virus erfordert ein ständige «Hab acht Stellung» der Mitarbeitenden und führt zu einer Vielzahl von emotionalen Belastungsmomenten, erläutert Pflegedirektor Michael Reinecke im Interview. (Foto: Pixabay)

Drei Fragen an...

Marburg (medio). Die Corona-Pandemie stellt besonders Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte im Gesundheitswesen vor große Herausforderungen und die Mitarbeitenden sind vielerorts am Limit. Wir haben kurz vor dem Weihnachtsfest den Pflegedirektor des Universitätsklinikums Marburg, Michael Reinecke, und die Klinikseelsorgerin Pfarrerin Marion Kohl dazu befragt, wie es den Fachkräften gerade auf den Covid-Stationen des Klinikums geht. Die Fragen stellte ekkw.de-Onlineredakteur Christian Küster kurz vor dem Weihnachtsfest.

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Ärzt*innen und medizinisches Pflegepersonal sind durch die Corona-Pandemie enormen Belastungen ausgesetzt. Herr Reinecke, was bedrückt die Mitarbeitenden zurzeit am meisten? Frau Pfarrerin Kohl, wie erleben Sie die Mitarbeitenden aus Seelsorgerinnen-Sicht?

Herr Reinecke:
Das ist natürlich immer sehr individuell, wobei unabhängig von der persönlichen Gewichtung, einige Dinge immer wieder in den Gesprächen zum Ausdruck gebracht werden. Patienten, denen es in dem einen Augenblick noch den Umständen entsprechend gut geht, die mit den Pflegenden normal kommunizieren, verschlechtern sich in ihrem Gesundheitszustand innerhalb weniger Minuten so sehr, dass sie auf eine Intensivstation verlegt und beatmet werden müssen. Das ist ein Spezifikum bei dieser Erkrankung und diese Unberechenbarkeit ist eine ständige «Hab acht Stellung», in der sich Mitarbeiter*innen befinden. Unter anderem dieser Umstand führt zu einer Vielzahl von emotionalen Belastungsmomenten. Da ist einerseits die Angst sich selber zu infizieren und die noch größere Angst vielleicht Patienten oder Angehörige zu infizieren, weil man nicht weiß ob man vielleicht selbst dieses Virus in sich trägt. Die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit ist bei diesem Krankheitsbild, einerseits durch die Unberechenbarkeit des Virus und andererseits durch dessen pandemisches Auftreten, besonders intensiv. Ein weiterer Belastungsfaktor ist der pflegerische Anspruch «jeden Patienten zu jeder Zeit gleichermaßen gut zu betreuen». Da die notwendigen Hygienemaßnahmen bei der Betreuung der an Covid 19 erkrankten Patienten eine enorme physische und mentale Anstrengung bedeuten, ist es wichtig für die Pflegenden zu wissen, dass alle anderen nicht an Covid erkrankten Patienten von anderen Team Kollegen*innen gut versorgt sind, um sich ganz auf die Pflegesituation konzentrieren zu können. Der Satz «tu das was du tust und tu es ganz», trifft hier ganz besonders zu. Einmal nicht konzentriert sein, kann bedeuten, ich muss mich wieder auskleiden, die fehlenden Pflegematerialien holen, wieder ankleiden und kann erst dann mit der Pflegemaßnahme beginnen. Das An- und Auskleiden und das konsequente Tragen einer FFP2 Maske bei körperlich anspruchsvoller Tätigkeit, ist eine nicht zu unterschätzende physische Belastung, unter der meine Kollegen*innen tätig sind.

Frau Kohl:
Ich erlebe die Pflegenden, Ärztinnen und Ärzte hochengagiert und zugleich immer wieder auch zutiefst erschöpft, und auch an ihren Grenzen. Wenn ich auf einer Intensivstation bin und erlebe, wie Ärzte, Ärztinnen und Pflegende, die gerade eine ganze Zeit intensiv an einem Covid-Patienten gearbeitet haben und alles getan haben, was gerade möglich war, wenn diese Menschen dann aus dem Intensivzimmer treten, ist ihnen die große Anstrengung und Anspannung buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Erschöpfung, Sorge, manchmal vielleicht auch Angst, sich selbst infiziert haben zu können und vielleicht selbst das Virus ohne Symptomatik weiter zu tragen; und damit Andere zu gefährden. Ja, selbst schwer zu erkranken. Das verlangt den Menschen, die hier arbeiten, alles ab. Ein immer neu sich einlassen auf Situationen, die sie selbst ja nirgendwo lernen konnten, sich nicht darauf vorbereiten konnten. «Wir begegnen sterbenden Menschen hier auf unseren Stationen», hat mir eine Ärztin gesagt, «und diese Menschen begleiten wir mit all unserer Zuwendung und unserem ärztlichen Können, aber was wir hier erleben, das ist schon richtig hart. Wenn Patientinnen und Patienten, die an Covid erkrankt sind, akut eingeliefert werden und noch am gleichen Tag versterben. Und das, obwohl wir alles tun und da sind, das ist schon schwer erträglich.» Gleichzeitig sind da ja auch noch alle anderen Patienten und Patientinnen zu versorgen, die sich jetzt besonders alleine fühlen, weil Weihnachtszeit ist, sie hier in der Klinik schwer krank liegen und der Besuch so reduziert ist. Auch für diese Patientinnen und Patienten wollen die Pflegenden, Ärztinnen und Ärzte da sein, zugewandt bleiben. Ein Spagat, kräftezehrend und traurig. 

Und noch eine Anmerkung: Hier tragen die Menschen stundenlang FFP 2 und 3 Masken, tun Sie es doch bitte auch zu Hause, in Ihren Gemeinden. Es hilft ganz konkret auch die Kliniken zu entlasten.

2
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen in einer Klinik versterben. Doch wenn Covid 19-Patient*innen morgens aufgenommen werden und noch am gleichen Tag sterben, entsteht für alle Mitarbeitenden eine außergewöhnliche, wenn nicht sogar hilflose Situation. Herr Reinecke, wie gehen Ihre Mitarbeitenden mit dieser Extremsituation um? Frau Pfarrerin Kohl, was löst das bei den Mitarbeitenden aus und was können Sie als Seelsorgerin tun?

Herr Reinecke:
Es ist nie eine Normalität für Pflegende, wenn Menschen sterben. Wenn der Sterbeprozess unvorhersehbar und innerhalb von Stunden abläuft, ist dies dramatisch. Jeder überlegt, ob er alles getan hat, ob man früher hätte reagieren können. Besonders diese nicht vorhersehbaren Todesfälle machen Angst und man stellt sehr schnell vieles in Frage. Die Dramatik geht dann noch weiter. Auch die Angehörigen, die vielleicht vorher ein Telefonat mit ihrem Angehörigen geführt haben und einen guten Eindruck hatten, werden in eine Art Schockzustand versetzt. Die Mitarbeitenden versuchen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu trösten und Abschied zu ermöglichen. Auch das ist ein Problem, da von einem an Covid 19 verstorbenen Menschen nur auf Distanz Abschied genommen werden darf. Ich bin so glücklich darüber, dass wir durch die Kolleg*innen der Klinikseelsorge zumindest ein Hilfsangebot haben, wo über diese Dinge gesprochen werden kann. Auf der Station geschieht es sicher auch, auch wird mal geweint, nur es muss ja weiter gehen. Die anderen Patient*innen wollen versorgt werden. Da ist dieses Angebot, bei dem für ein paar Minuten nur der/die Mitarbeiter/in und seine/ihre Gefühle wichtig sind, essentiell in dieser Zeit.

Frau Kohl:
Ich bin eben darauf schon kurz eingegangen. Es ist ja kaum Zeit zur Trauerarbeit. Kaum ein Durchatmen, weil die nächsten Patienten, Patientinnen schon angemeldet sind und auf bestmögliche Versorgung warten, weil völlig besorgte und beunruhigte Angehörige am Telefon auf entlastende Antwort warten. Ich habe tiefen Respekt und hohe Achtung vor dem, was hier gerade für die erkrankten Menschen geleistet wird. Und es gibt kaum Pausen. Die zweite Coronawelle ist so stark und unberechenbar. Wenn Menschen hier in der Klinik sterben, sind die betreuenden Pflegenden und Ärzte wie Ärztinnen zumeist schon etwas länger in Kontakt, auch mit den Angehörigen. Da gab es Gespräche, Therapien, Hoffnung, Begleitung auf dem Weg. Das letzte Wegstück richtet sich dann sehr nach den Bedürfnissen des Sterbenden, wie der Angehörigen und es wird alles, was möglich ist, getan. Bei einem Covid-Erkrankten ist das Sterben ein anderes. Oft kommt es ganz unvermittelt. Unvorbereitet. «Wir waren vor einer viertel Stunde noch bei ihm im Zimmer», sagt mir eine junge Krankenschwester und lässt sich erschöpft auf den Stuhl fallen. Und mehr braucht sie auch nicht zu sagen. Ich sehe die Erschöpfung und auch den Schrecken, die Angst. Was können wir tun als Seelsorgende im Klinikum? Wir können da sein, auch in all unseren Grenzen. Selbstverständlich für Patienten und Patientinnen, wie Angehörige, aber ganz besonders für Menschen, die im Klinikum arbeiten. So haben wir aktuell ein Feierabendtelefon für Mitarbeitende eingerichtet, von 18 bis 22 Uhr. Und es gibt auch die Möglichkeit einer Mittagsbesprechung für Mitarbeitende, die auf Covid-Stationen arbeiten. Zur Ruhe kommen, einfach sagen dürfen, was einen gerade beschäftigt, etwas loswerden können in geschütztem Raum. Eine Atempause, einander zuhören, manchmal tut das einfach schon gut. Gleich im Mai haben wir besonders für Mitarbeitende kleine «Gottesdienste to Go» installiert. Auf dem Weg durch das Haus sollten alle die Möglichkeit haben, sich einen kleinen Brotbeutel mit einer kurzen Andacht, einem Gebet, einer Feder, Muschel, einem Bild und einem Teebeutel, oder etwas Süßem zur Stärkung mit zu nehmen. Diese Brotbeutel hängen und werden mitgenommen. Was können wir tun? Dazu gehört auch ein Sharing, ein Teilen der Angst, der Unsicherheit und der Sorge; wie eben auch da sein, zuhören, Anteil nehmen. Das alles auf Abstand, keine Berührung, kein in den Arm nehmen. Und immer wieder auch nachfragen: «Wie geht es Ihnen gerade?» «Was ist gerade besonders schwer?» Und Zeit haben.

3
An den freien Weihnachtstagen kommen die Menschen in ihrem Familienkreis zusammen und erleben besinnliche Momente. Der Klinikbetrieb muss aber weiterlaufen und Mitarbeitende werden auch an diesen Tagen um das Leben von Covid 19-Patient*innen ringen. Das ist ein starker Kontrast. Herr Reinecke, müssten wir nicht Weihnachten in diesem Jahr anders feiern - mit Rücksicht auf die Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten und auch auf die, die dort sterben? Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft? Frau Pfarrerin Kohl, wie passen Familienidylle und die Not von Menschen in der Pandemie zusammen?

Herr Reinecke:
Im Frühjahr bei dem ersten Lockdown, gab es eine Situation, die mir noch im Gedächtnis ist. Ich stand vor einem Supermarkt in einer längeren Schlange. Die Sonne schien und ich träumte vor mich hin. Es hat mich nicht gestört zu warten, in einer Schlange zu stehen, ich habe diese Ruhe und das Innehalten genossen. Ich wünsche mir, dass dieses Weihnachtsfest für die Menschen auch ein Innehalten beinhaltet. Den inneren Blick etwas nach außen zu richten und sich vorzustellen, wie es den Menschen in den Kliniken geht, den in und an den Betten. Wie es den Menschen geht, die krank zuhause sind und Menschen, die einen anderen geliebten Menschen verloren haben. Ich wünsche mir, dass wenn ich gesund bin und es mir gut geht, es meinen Lieben gut geht, ich keine Angst um meinen Arbeitsplatz haben muss, dass ich auch einmal dankbar sein darf für dieses Geschenk. Es ist eine Momentaufnahme. Ich nenne es für mich immer «das kleine Glück». 

Von der Gesellschaft wünsche ich mir, dass sie auch nach der Pandemie an die Menschen denkt, die jeden Tag und auch jedes Weihnachtsfest in den Kliniken, Altenheimen und ambulanten Pflegediensten ihren Dienst am Menschen versehen. Ich bin stolz auf meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Gesellschaft sollte es auch sein. 

Frau Kohl:
Familienidylle, da steckt ja auch viel Sehnsucht in diesem Wort. Ein bisschen heile Welt, das wäre doch schön. Diese Sehnsucht kann ich gut verstehen. Alles soll gut sein. Aber es ist eben nicht alles gut. Nicht in den vergangenen Jahren und jetzt in der Pandemiezeit auch nicht. Weihnachten ist anders. Weihnachten feiern wir ruhiger, in kleinem Kreis, anders. Und sicher schwingen da Sorge und Angst mit. Und viele werden auch in Gedanken bei ihren Angehörigen sein und hoffen, dass diese nicht erkranken und wieder bessere Zeiten kommen. Weihnachten ist anders, überall. Neulich hat eine Studentin gesagt: «Vielleicht hat Weihnachten in diesem Jahr mehr mit dem ursprünglichen Weihnachtsfest zu tun, mehr mit dem Kind in der Krippe, mit Jesus Christus, dem Licht, das in unsere Welt kommt.» Weihnachten ist doch mehr, als das, was wir daraus gemacht haben. Es ist doch mehr, als ein Geschenkefest und eine Familienidylle. Wir feiern die Geburt Christi, der in einem dunklen Stall in der Nacht zur Welt kam. Er ist das Licht in der Welt, in der Dunkelheit. Vielleicht nehmen wir uns Zeit, einmal zu schauen, was uns Weihnachten wirklich bedeutet? Was Weihnachten für uns ist? Vielleicht spüren wir dem nach, was uns im Leben wichtig ist, jetzt gerade in dieser Corona-Zeit.

(23.12.2020)


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