«Out of Egypt» («Heraus aus Ägypten») heißt eine Serie von textilen Kunstwerken der polnischen Roma Malgorzata Mirga-Tas, die mit dem Kollektiv «Off-Biennale Budapest» zur documenta gekommen ist, welches sich mit der Kunst der Roma beschäftigt. Die Serie ist im Fridericianum zu sehen. Mirga-Tas bezieht sich auf Stiche aus dem 17. Jahrhundert, die «Zigeuner» auf Wanderschaft zeigen, und schafft sie in Patchwork-Form neu, wobei der Stoff aus getragener Kleidung ihrer Gemeinschaft stammt. In den Vorlagen (eine hieß «Die Ägypter») werden Roma als orientalische Außenseiter der europäischen Gesellschaft dargestellt, deren Herkunft mit Ägypten in Verbindung gebracht wurde, erklärt das Kunstmagazin «Frieze».
Die documenta 15 und die Religion: Faszinierend und verstörend


«Out of Egypt» («Heraus aus Ägypten») heißt eine Serie von textilen Kunstwerken der polnischen Roma Malgorzata Mirga-Tas, die mit dem Kollektiv «Off-Biennale Budapest» zur documenta gekommen ist, welches sich mit der Kunst der Roma beschäftigt. Die Serie ist im Fridericianum zu sehen. Mirga-Tas bezieht sich auf Stiche aus dem 17. Jahrhundert, die «Zigeuner» auf Wanderschaft zeigen, und schafft sie in Patchwork-Form neu, wobei der Stoff aus getragener Kleidung ihrer Gemeinschaft stammt. In den Vorlagen (eine hieß «Die Ägypter») werden Roma als orientalische Außenseiter der europäischen Gesellschaft dargestellt, deren Herkunft mit Ägypten in Verbindung gebracht wurde, erklärt das Kunstmagazin «Frieze».
Es braucht nicht viel Fantasie, um den Titel «Out of Egypt» mit der biblischen Geschichte vom Auszug aus Ägypten, dem Exodus, in Verbindung zu setzen. Gott rettet Israel, das auserwählte Volk, aus der Sklaverei und führt es durch Mose in das gelobte Land. So kann man dieses Bild auch als einen Verweis auf die nach biblischer Überlieferung 40 Jahre andauernde Wanderung durch die Wüste sehen. Das Bild zeigt eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Rücken und einem größeren Kind an der Hand. Bilder wie diese ziehen sich durch die Jahrhunderte – bis zum heutigen Tag müssen Menschen – darunter viele Familien mit Kindern – vor Krieg und Gewalt fliehen. Man mag auch an die Flucht von Maria und Josef mit dem Jesuskind denken – freilich in umgekehrter Richtung, nämlich nach Ägypten. Interessanterweise wird im apokryphen (außerbiblischen) Pseudo-Matthäus-Evangelium erzählt, dass Maria auf der Flucht von einem Mädchen begleitet wurde – so wie auf dem Bild von Malgorzata Mirga-Tas.
Ebenfalls im Fridericianum begegnet man einer großformatigen Jesus-Darstellung. Auf dem Gemälde ist er mit Heiligenschein dargestellt und mit Gewändern bekleidet, die in vielen Jesus-Bildern der Kunstgeschichte so oder ähnlich zu sehen sind. Allerdings ist dieser Jesus nicht, wie in vielen westlichen Gemälden der Kunstgeschichte, weiß. Interessant sind auch die rechts im Bild zu sehenden Kreuze, die aus je einem Fußpaar schwarzer Menschen gebildet werden. Gezeigt wird das Werk von «The Black Archives». Dabei handelt es sich um eine Initiative, die in Amsterdam das Erbe der surinamischen und afrikanischen Diaspora in den Niederlanden und ihren Kampf gegen Unterdrückung und Diskriminierung in Tausenden Dokumenten, Büchern, Fotos, Filmen und eben Kunstwerken dokumentiert. Das Kollektiv thematisiert auf der documenta auch den Missbrauch der biblischen Geschichten durch weiße, westliche Missionare in der Kolonialisierung – unter anderem am Beispiel der Herrnhuter Brüder.
Geradezu klassisch ist eine Darstellung von Maria und Jesus in der benachbarten documenta-Halle. Wenn man die Halle durch den Wellblech-Tunnel betreten hat, sieht man das Bild links an der Wand. Gestaltet wurde dieser Bereich vom «Wajukuu Art Project» aus Nairobi (Kenia), genauer gesagt aus dem Slum Lunga Lunga. «In gewisser Weise geht es in Wajukuus Projekt sowohl um die Bewahrung als auch um die ‚Neuerfindung‘ des kulturellen Erbes», heißt es im documenta-Handbuch. So greift das Bild auf klassische Merkmale der Marienmalerei zurück, etwa die blaue Farbe des Kleides. Ähnlich wie beim Jesus-Bild im Fridericianum wird sie nicht als weiße Frau dargestellt, sondern Mutter und Kind könnten selbst in Lunga Lunga wohnen, worauf auch Marias Kopfbedeckung hindeutet. Nicht ganz klar ist, ob Jesus in ihren Armen schläft oder tot ist – dann wäre es eine Art Blick in die Zukunft und das Bild eine Pietà – allerdings mit Jesus noch im Kindesalter.


Wir begegnen Maria und dem Kind an anderer Stelle wieder – in eher verstörender Form. Das Kollektiv «Atis Rezistans / Ghetto Biennale» aus dem Inselstaat Haiti zeigt seine Werke in der katholischen Kirche St. Kunigundis und bringt auf faszinierende Weise die Voodoo-Religion seiner Heimat mit dem Katholizismus in einen künstlerischen Dialog.
Auch die «Jungfrau Maria» («Vyej Mari», 2015) von Jean Claude Saintilus trägt blau, doch sie erschreckt den Betrachter auch, hat sie doch einen Totenschädel – der Künstler hat, wie in vielen anderen Werken hier, echte Skelettteile verwendet. Er selbst nennt Geister als seine größte Inspiration.
Wem Voodoo nur aus Hollywoodfilmen ein Begriff ist, der weiß vielleicht nicht, dass es sich um eine Religion handelt, deren Wurzeln in Afrika liegen, die aber eben auch in Haiti stark ist. In Voodoo wurden Elemente aus afrikanischer, islamischer, katholischer und anderer Traditionen aufgenommen, sodass das Wechselspiel in der Kunigundis-Kirche nicht artifiziell wirkt. Es sei natürlich kein Zufall, dass das Kollektiv in einer Kirche ausstelle, sagt der Künstler Simon Benjamin aus Jamaika, der ebenfalls dort Werke zeigt.
Neben der religiösen Blickweise greifen die Künstlerinnen und Künstler hier auch Themen des Kolonialismus und der wechselhaften Geschichte Haitis auf. Eine Malerei von Michel Lafleur gedenkt Künstlern und Künstlerinnen, die beim schweren Erdbeben 2012 ums Leben kamen – sie erinnert in ihrer Ästhetik an die Gefallenentafeln aus dem 1. und 2. Weltkrieg, wie sie hierzulande in vielen Kirchen zu sehen sind.
Spannend ist auch der Blick in die kleine Marienkapelle rechts vom Eingangsportal. Die Marienstatue, die mutmaßlich auch vorher schon dort stand, ist nun von einer bunten Lichterkette umkränzt. Neben ihr drehen sich rechts und links Gefäße, die über und über mit Pillenpackungen verziert sind. Soweit es das Thema Religion und Kunst betrifft, ist die Kirche St. Kunigundis sicher der herausforderndste und faszinierendste Ausstellungsort dieser documenta.

Wiederum einen ganz anderen Zugang bietet die «Fondation Festival sur le Niger», die eine große Ausstellungsfläche auf dem Hübner-Areal gestaltet hat. An einer Wand hängen ungezählte Marionetten, die Yaya Coulibaly zur «Wall of Puppets» zusammengetragen hat: Menschen, Tiere, Fabelwesen. Der westliche Besucher mag das mit Kinderbelustigung verbinden, doch für Coulibaly ist es viel mehr, wie die südafrikanische Zeitung IOL (www.iol.co.za) berichtet. Er steht in einer langen Ahnenreihe der Bambara in Mali mit einer reichen und jahrhundertealten Puppentradition, als deren Verwalter er sich sieht. Nie, so schreibt die Zeitung, würde er trotz aller Armut eine seiner Puppen verkaufen, obwohl es viele Anfragen gebe.
Die Puppen «sind im magischen Feld zwischen Illusion und Realität angesiedelt, sie verbinden die unsichtbare Welt des Überirdischen mit der sichtbaren Welt der Menschen. Die Verbindung zwischen Puppen und Puppenspieler spiegelt jene zwischen Mensch und Gott. Sie ist völlig symbiotisch. Keiner kann ohne den anderen funktionieren oder lebendig werden. Die Puppe braucht den Spieler, um die Fäden zu ziehen, der Spieler braucht die Puppe als Vehikel für seine Kreativität in der Welt», erläutert die Zeitung. Nicht nur die Marionetten hat das Kollektiv mitgebracht, es gibt noch viel mehr in den Hallen der ehemaligen Fabrik Hübner zu entdecken.
Und dann war da – zumindest an den Eröffnungstagen – diese Pappfigur vor dem Hallenbad Ost; eine von ungezählten Aufstellern, die auf Indonesisch «wayang kardus» genannt werden. Die Figur zeigt eine Frau, die ein Herz in den Händen hält, darunter eine Aufschrift, die übersetzt in etwa bedeutet: «Gib den Mitgeschöpfen Gottes Liebe». Um den Kopf der Frau sind Symbole unterschiedlicher Religionen versammelt, vom Kreuz über den Davidsstern bis hin zum Halbmond und dem Yin und Yang des Daoismus. Eine simple und schöne Botschaft der Freundschaft zwischen den Religionen? Sicher. Es gibt nur ein Problem: Der Aufsteller stammt von Taring Padi, dem indonesischen Kollektiv, das mit einer antisemitischen Karikatur in einem Großbild für einen Skandal gesorgt hat. Wie diese beiden Botschaften zusammenpassen sollen, wissen allenfalls die Künstler und Künstlerinnen. Und vermutlich nicht einmal die.
Zurück zur Gretchenfrage: Wie hält es die documenta 15 mit der Religion? Eine einfache Antwort wird, passend zur vielfältigen, bewusst chaotischen und verwirrenden Ausstellung ausbleiben müssen. Aber die Religion bleibt keineswegs außen vor, es gibt keine Berührungsängste. Das war etwa bei der documenta 13 noch ganz anders, deren Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev eine «regelrechte Kirchen-Phobie an den Tag legte», wie der inzwischen verstorbene Kunstkritiker und documenta-Kenner Dirk Schwarze schrieb (nachzulesen unter www.dirkschwarze.net). Die aktuelle documenta ist vielfach – und das auch in Werken, die hier noch gar nicht erwähnt werden konnten – spirituell. Sie thematisiert Religion, befragt sie und stellt sie in neue Kontexte – wer die Ausstellung unter diesem Aspekt besucht, wird Faszinierendes entdecken können. (23.08.2022)
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