Aktuell: Interview mit Pröpstin Marita Natt

Pröpstin Marita Natt stellte sich den Fragen von medio-Redaktionsleiter Pfarrer Christian Fischer.

Fischer: Frau Natt, Sie werden in der nächsten Woche Prälatin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck sein. Was reizt Sie denn an dieser neuen Aufgabe?

Natt: Ich bin sehr gespannt darauf, die vielen unterschiedlichen Regionen und Bereiche in unserer Landeskirche kennen zu lernen. Schon als langjährige Gemeindepfarrerin und mehr noch als Pröpstin fand ich die bunte Vielfalt der Gemeinden erstaunlich. Jetzt freut es mich, die unterschiedliche Arbeit von Pfarrerinnen und Pfarrern ermutigend und kritisch zu begleiten. Das Amt der Prälatin ist  noch einmal eine ganz neue Herausforderung für mich. Ich werde alle Pfarrkonferenzen besuchen; denn ich möchte hören, welche Themen die Pfarrerschaft und die Ehrenamtlichen bewegen – jenseits der Pfarrstellenanpassung. Als große Verantwortung empfinde ich es, in dieser Zeit unsere Kirche mitzugestalten.

Fischer: Konnten Sie erste Eindrücke von Ihrer neuen Aufgabe gewinnen?

Natt: Ich konnte jetzt vier Wochen Prälatin Alterhoff begleiten, sozusagen hospitieren, in den verschiedenen Aufgabenfeldern. Das war sehr gut und hilfreich. Ich fand es aufschlussreich, dass dieses Amt nicht nur mit Personalwesen zu tun hat, sondern auch mit vielen anderen Betätigungsfeldern, über die Grenzen unserer Landeskirche hinaus. Da gibt es Austausch und Begegnungen mit Leitenden anderer EKD-Gliedkirchen. Da gibt es zahlreiche Ausschüsse und Gremien. Als für mich besonders eindrücklich nenne ich, weil es noch ganz aktuell ist, die erste theologische Prüfung, an der ich gestern in Hofgeismar teilgenommen habe.
Zum ersten Mal wieder diese besondere Atmosphäre zu erleben war spannend. Mein eigenes Examen liegt ja schon viele Jahre zurück. Es war für mich eine schöne Erfahrung, zu sehen, wie die jungen Theologinnen und Theologen sich den Fragen der Professoren stellten und zu hören, was sie an Wissen und an Esprit mitbringen. Das hat mir richtig Freude gemacht.

Fischer: Schauen wir uns die Aufgaben im Einzelnen an. Zu Ihren Aufgaben gehört es, die Landeskirche zu repräsentieren. Sie werden die theologische Stellvertreterin des Bischofs sein. Wie würden Sie die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck charakterisieren? Was zeichnet sie aus?

Natt: Ich möchte sie als eine sehr sympathische Kirche charakterisieren. Im Propstamt habe ich die Erfahrung gemacht, dass in unserer kurhessischen Landeskirche sehr genau hingeschaut wird, dass die Belange Einzelner ernst genommen werden. Da ist zum Beispiel in letzter Zeit die Frage der kleinen Gemeinden oder eben auch der großen Gesamtverbände mit all den Schwierigkeiten, die es im finanziellen Bereich gibt: Wie findet man Lösungen, damit unsere Kirche, die ja doch sehr breit im ländlichen Raum angesiedelt ist, gut in die Zukunft gehen kann? Der Pfarrstellenanpassungsplan fordert viel Kraft von uns allen, aber die Gesprächskultur ist gut.
«Kirche der Mitte» hat Bischof Dr. Hein unsere Landeskirche genannt. Das gefällt mir. Zum einen stimmt es räumlich, es stimmt aber auch von der Mitgliederzahl. Und es stimmt, finde ich, in Bezug auf die Einstellung. Es zeichnet unsere Kirche aus, dass sie besonnen war und ist, keine schnellen, voreiligen Schritte geht. Das hat uns in der Vergangenheit eine gewisse Grundsicherheit gebracht. Im Vergleich zu manch anderen Landeskirchen sind wir gut aufgestellt und unsere Pfarrerinnen und Pfarrer müssen nicht um ihre Zukunft oder um ihre Altersversorgung bangen. Im Gegenteil! Wir brauchen guten, motivierten Nachwuchs!

Fischer: Wie sehen Sie generell die Zukunft für diese Landeskirche? Es gibt ja Tendenzen, sich mit anderen Landeskirchen stärker zu verständigen, zu kooperieren. Und auch im Konzert der Gliedkirchen in Deutschland ist ja einiges in Bewegung...

Natt: Ich blicke der Zukunft, was Kirche betrifft, gelassen, ja, hoffnungsvoll entgegen. Das «Schiff» hatte schon ganz andere Stürme auszuhalten! Und wenn Sie nach Kooperation fragen: Es macht Sinn, in bestimmten Bereichen enger zusammen zu arbeiten. Gemeinsam ist man stärker, das lässt sich schön im 4. Kapitel des Predigerbuches nachlesen: «Zwei sind besser dran als nur einer, sie haben doch einen guten Lohn für ihre Mühe...». Aber ich sehe auch, dass jede Landeskirche eine sehr eigene Geschichte und, damit verbunden, Tradition hat. Ich bin eine Freundin der kleineren Einheiten, weil ich denke, gerade in der Kirche kommt es sehr stark auf Begegnung und auf persönliche Beziehungen an. Das gilt in den Gemeinden und Einrichtungen, und das gilt auch darüber hinaus. Und ich finde - wie gesagt - unsere Landeskirche ausgesprochen liebenswert. Diese herrliche Landschaft zu durchfahren ist ein Genuss! In den vier Sprengeln pulsiert so viel gemeindliches und übergemeindliches Leben, das entnehme ich Pressemitteilungen, und ich erfahre es in Gesprächen. Ich denke, mit diesen Schätzen kann man in einer überschaubaren Größenordnung wertschätzender umgehen. Alles, was zu groß wird, birgt die Gefahr, dass es unpersönlich wird, und das ist für mich mit Verlust verbunden.

Fischer: Ein Schwerpunkt Ihrer Tätigkeit wird die Personalführung der Pfarrerinnen und Pfarrer sein. Wie schätzen Sie die derzeitige Stimmung unter den Pfarrerinnen und Pfarrern in Kurhessen-Waldeck ein?

Natt: Da habe ich natürlich im Augenblick noch den Blick der Pröpstin des Sprengels Hersfeld und muss sagen, ich bin ganz positiv überrascht gewesen, wie viele Kolleginnen und Kollegen die Themen Pfarrstellenreduzierung, Zusammenlegen von Gemeinden und Zusammenarbeit in Regionen positiv und konstruktiv angefasst haben. Ich habe hier keine Depression erlebt, sondern eher das Gegenteil. Bis hin zu ganz mutigen Überlegungen. Zum Beispiel bei weniger werdenden Konfirmandenzahlen die Unterrichtssituation zu verändern oder auch übergemeindlich Schwerpunkte zu setzen. Der eine dies, der andere jenes. Also, ich glaube, da ist ganz viel Zukunft, die man positiv gestalten kann. Aber: Es wird immer auch die anderen, die die Situation eher depressiv einschätzen, geben. Und damit werde ich sicher mehr zu tun bekommen.

Fischer: Werfen wir mal einen Blick auf die Probleme. Welche Probleme in der Pfarrerschaft haben Sie wahrgenommen? Wo sagen Sie, da muss sich etwas ändern?

Natt: Es gibt sicher für manche die Sorge, wie es mit ihnen weiter geht, wenn ihre Gemeinde einer anderen Gemeinde zugeordnet wird. Allerdings muss ich sagen, das sind nicht ganz gerechtfertigte Existenzängste. Denn keine unserer Pfarrerinnen und keiner unserer Pfarrer fällt in ein Nichts, sondern sie werden, und wenn es zunächst mit einer Verfügungsstelle ist, aufgefangen. Aber da ist natürlich neben der Realität das Gefühlte: Ich muss möglicherweise das vertraute Pfarrhaus verlassen, in dem ich gelebt habe mit meiner Familie. Und da werden dann auch die Kirchenvorstandsmitglieder aktiv, die sich für ihre Seelsorger einsetzen wollen. Manchmal gibt es aber auch Probleme in diesem kirchenleitenden Team von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen. Das belastet Kolleginnen und Kollegen auch. Es bedrückt manche, dass ihre Gemeinden sich reduzieren, weil immer weniger Kinder geboren werden. Sie erzählen mir: «Ich habe nur zwei Taufen im Jahr, aber 15 Beerdigungen».
Das entspricht dann so gar nicht dem, was wir als Pfarrerinnen und Pfarrer auch gerne tun würden, nämlich aufbauen. Stattdessen begleiten wir ein Stück den Abbau. In den ländlichen Bereichen ist das oft Trauerarbeit. Und das schmerzt natürlich auch die Pfarrerinnen und Pfarrer.
Hin und wieder erlebe ich auch Vereinsamung. In manchen Dörfern stehen viele Häuser und Gehöfte leer, die Straßen sind wie ausgestorben. Die Bewohner arbeiten weit außerhalb, stehen um vier Uhr morgens auf und kommen abends um acht müde zurück. Aber vor Ort ist die Pfarrerin, der Pfarrer. Das ist nicht immer leicht; denn die Ansprechpartner, die Mitarbeitenden und Teilnehmer an kirchlichen Veranstaltungen werden weniger.

Fischer: Sie haben die Pfarrstellenanpassung schon angesprochen. Gibt es hier Felder, wo Sie besondere Akzente setzen wollen und werden?

Natt: Ich finde es sehr gut, dass in unserer Landeskirche dieser ganze Prozess «von unten» eingeleitet wurde. Man konnte in den Regionen der Kirchenkreise überlegen. Das war sicher eine hohe Belastung für Kirchenkreisvorstände und Gemeinden, aber die Pfarrer und Kirchenvorstände haben sich verständigt und Ideen entwickelt. Auch den sog. Laien, den ehrenamtlich in unserer Landeskirche tätigen Menschen, leuchtet es ein, dass wir nicht so weiter arbeiten können bei sinkender Zahl von Mitgliedern.
Meine Akzente? Da genau hin zu hören und abzuwägen. Ich glaube in der Tat, dass man nur in der Region wirklich weiß, wer sich zu wem gesellen kann, oder wo es seit 500 Jahren eine unsichtbare Mauer gibt. Vor Ort kennt man die räumlichen Verbindungen, Schule, Kindergarten, Kommunen, Gemeinsamkeiten. Ernst zu nehmen, was aus der Basis an Vorschlägen kommt, das möchte ich fortführen, so, wie ich es auch bei meiner Vorgängerin und allen, die in diesem Prozess mitdenken und -arbeiten, erlebt habe. Wichtig ist mir auch die Zusammenarbeit mit den Dekanaten und den Kirchenkreisvorständen. Bei alledem bin ich nicht allein. Herr Dreisbach ist im Dezernat der Prälatin eine ganz großartige Hilfe, der unermüdlich unterwegs und mit den Kirchenvorständen im Gespräch ist. Das finde ich ganz wichtig. Nicht von oben, wie das ja auch möglich wäre und wie es in manchen Landeskirchen geschieht, sondern wirklich aus der Basis heraus zu überlegen, wie wir unsere Landeskirche so aufstellen können, dass wir auch zukünftig segensreich das Evangelium weitergeben können.

Fischer: Das ist eine große Aufgabe. Von wem wünschen Sie sich besonders Unterstützung bei dieser schwierigen Aufgabe?

Natt: Ja, zum einen gibt es die Mitarbeitenden im Dezernat. Aber ich erwarte und wünsche mir besonders auch weiterhin die Mitarbeit und Unterstützung der Dekaneschaft. Ich achte sehr, was sie in der Vergangenheit mit den Kirchenkreisvorständen an zusätzlichen Sitzungen auf sich genommen haben. Ich wünsche mir, dass wir konstruktiv und offen miteinander kommunizieren und überlegen. Denn nur im guten geschwisterlichen Miteinander gelingt es, mutig neue Schritte zu gehen.

Fischer: Und was erwarten Sie von den Pfarrerinnen und Pfarrern?

Natt: Dass sie sich einen realistischen Blick auf die Situation in unserer Landeskirche, in der Gesellschaft, in der Welt bewahren. Dass sie weiterhin wahrnehmen, was jenseits der Fragen, die sie persönlich und in der Gemeinde belasten, an Sorgen und Nöten in der Gesellschaft existiert. Zunehmende Armut, Unfrieden, hohe Gewaltbereitschaft, um nur drei Stichworte zu benennen.
Dass sie weiterhin ihre große Verantwortung wahrnehmen, Menschen in Krisen zu begleiten, sich einzumischen, wo eine klare, evangelische Stellungnahme nötig ist. Das wünsche ich mir. Und ich wünsche mir ein Verstehen und Mittragen der Situation, in der wir uns als ihre Kirche, als ihr Arbeitgeber, im Augenblick befinden. Ich wünsche mir Solidarität mit der Landeskirche, mit den Themen, die uns beschäftigen. Auch hier gilt, dass ein starkes Band nicht so schnell zerreißt (Prediger 4,12). Ansonsten will ich sagen: Wir sind einem Herrn unterstellt, und dieser Herr verlässt uns nicht! Dass das immer wieder mit aller Freude und Gewissheit weitergegeben wird, das wünsche ich mir.

Fischer: Sie haben in Ihrem neuen Amt Personalverantwortung für Pfarrerinnen und Pfarrer in unserer Landeskirche und werden sicher auch Entscheidungen treffen, die tief in das Leben einzelner eingreifen. Was bedeutet es für Sie ganz persönlich, mit dieser Macht umzugehen?

Natt: Das Wort Macht hat mir immer schon ein wenig Probleme bereitet, weil mit dem Wort Macht leicht ein Zungenschlag von Missbrauch bis hin zur Gewalt mitschwingt. Deshalb fällt es mir schwer, in der Personalverantwortung für Pfarrerinnen und Pfarrer von Macht zu sprechen. Ich möchte eher Verantwortung sagen. Natürlich werde ich als Prälatin eine andere Aufgabe haben als ich sie bisher als Pröpstin wahrnehmen konnte. Da habe ich mich sehr stark als die Seelsorgerin gesehen.
Jetzt werde ich Entscheidungen treffen müssen, die zum Teil schmerzlich sind für die Betroffenen. Aber da gibt es immer die Möglichkeit der Gespräche. Auch hier erwarte ich, dass man sich eingestehen kann, wenn wirklich ganz gravierende Schwächen vorhanden sind oder wenn keine Möglichkeit des guten Miteinanders in bestimmten Gemeinden mit bestimmten Personen mehr besteht. Wir sind in unsere Landeskirche, in unsere Gemeinden und nicht in eine Gemeinde ordiniert. Wir sind gesandt, landeskirchenweit unseren Dienst zu tun, mit dem, was uns der Herr schenkt an Gaben und Talenten. Manchmal werde ich unter Umständen etwas anders sehen müssen als die Betroffenen. Aber ich möchte dieses Amt wirklich zugunsten unserer Landeskirche, der Gemeinden und der Menschen, die in ihnen leben, führen und meine Entscheidungen treffen.

Fischer: Was unterscheidet Frauen und Männer in leitenden Positionen?

Natt: Was unterscheidet Mütter und Väter? Also ich denke, und das finde ich auch gut so, dass Frauen in manchen Dingen vielleicht emotionaler, vielleicht auch mit anderen Facetten, urteilen. Wenn mir jemand gegenüber sitzt, habe ich vielleicht noch einmal einen anderen Blick als dreifache Mutter. Das unterscheidet mich vielleicht von meinen männlichen Vorgängern oder von einem Mann, der - wie das lange Zeit ja gewesen ist - immer nur seine Arbeit hatte und sich um viele andere Dinge nicht kümmern musste. Ich kenne die breite Palette eines Familienlebens und denke schon, dass wir Frauen keinesfalls weniger streng sind, denn gerade, wenn wir unsere Kinder ins Leben bringen müssen, dann müssen wir manches durchsetzen, was sie gar nicht so einsehen wollen. Aber vielleicht auf eine andere Art und Weise als Männer. Ich kann es nicht so beurteilen. Ich tue es. Ich bin so, wie ich bin. Und ob das nun weiblich oder männlich ist, das weiß ich gar nicht - vielleicht habe ich ja viel mehr männliche Anteile als ich denke, und es gibt viele Männer, die ganz viele weibliche Anteile haben. Ich finde es schwierig, Macht?! Ich werde diese Aufgabe so versuchen zu füllen, wie ich es eben kann, in Verantwortung und «im Vertrauen auf Gott und die Hilfe der Schwestern und Brüder».

Fischer: Für Ihre Aufgabe werden Sie Kraft brauchen. Wie gelingt es Ihnen ganz persönlich, Ihren Glauben im Alltag zu leben?

Natt: Der Tag beginnt, zusammen mit meinem Mann, mit dem Lesen der Losung, des Lehrtextes und Liedverses für den Tag. Dann haben wir schon mal das gute Wort, das Schwarzbrot, vor dem Frühstück. Ich bin aufgewachsen in einem Elternhaus, in dem Musik und Kirchenlieder eine ganz große Rolle gespielt haben. Meine Großeltern waren in der Landeskirchlichen Gemeinschaft, und es wurde viel gesungen. Ich hatte sehr früh Klavierunterricht und habe vorwiegend Gesangbuchlieder gespielt und dann auch im Gottesdienst begleitet. Daher bin ich oft unterwegs mit einem Lied, das in mir schwingt, über den ganzen Tag. Das kann etwas sehr Fröhliches sein, das kann etwas ganz Trauriges sein, je nachdem, was passiert. Letzte Woche habe ich eine sehr liebe Kirchenvorsteherin der Stadtkirchengemeinde Hersfeld beerdigt. Wir hatten zusammen «Befiehl du deine Wege» gesungen - irgendwann an ihrem Krankenbett, und das ist tagelang mit mir gegangen. Lieder spielen eine große Rolle in meinem Glaubensleben. Und, wenn ich nachts nicht schlafen kann - meistens kann ich das -  dann ist wirklich Zwiesprache im Gebet angesagt. Auch da spüre ich eine ganz große Kraftquelle. Dass ich einfach ablegen kann und sagen kann: «Herr, nimm du und lass mich spüren, was jetzt richtig ist zu entscheiden.» Und da merke ich tatsächlich, das ist etwas Wunderbares.

Fischer: Jetzt stehen Ihnen Veränderungen bevor. Wie schwer fällt Ihnen der Abschied aus Bad Hersfeld?

Natt: Er fällt uns allen schwer, weil wir Bad Hersfeld tatsächlich lieben gelernt haben. Die Stadt wird immer schöner. Jetzt im Augenblick ist Festspielatmosphäre. Das ist natürlich etwas ganz Besonderes. Von unserem Balkon aus können wir, je nachdem, wie der Wind steht, mit erleben und mit hören, was gespielt wird. Das ist ein besonderer Reiz. In der Stadtkirchengemeinde habe ich mich sehr wohl gefühlt. Wenn man durch die Straßen geht, grüßt man sich, man kennt sich, man kennt auch die Verantwortlichen in der Stadt. Es ist ein Netzwerk entstanden. Das hinter sich zu lassen, fällt meinem Mann und mir nicht leicht und unserer jüngsten Tochter, die hier ihr Abitur gemacht hat und Freunde zurücklässt, am allerschwersten.

Fischer: Sie ziehen jetzt nach Kassel. Worauf freuen Sie sich in dieser Stadt?

Natt: Einmal sind es jetzt natürlich die kurzen Wege. Ich finde es schön, zu Fuß ins Landeskirchenamt gehen zu können. Ich freue mich auf das große kulturelle Angebot, das natürlich Kassel noch einmal in einem ganz anderen Ausmaß bietet als Bad Hersfeld das bieten konnte. Der Bahnhof bringt uns überall hin. Das ist für meine Töchter extrem wichtig. Ich liebe die Landschaft rund um Kassel und möchte den Habichtswald erkunden. Mein Mann und ich wandern und fahren gerne Fahrrad. Wir wohnen in Wilhelmshöhe. Das heißt jetzt: bergauf und bergab.

Fischer: Nordhessen ist Ihnen nicht unbekannt...

Natt: Ich war ja als Pfarrerin in Gottsbüren und später in Hofgeismar-Altstadt tätig. Das waren sehr glückliche Jahre. Ich liebe die Umgebung von Kassel, als Kind habe ich oft meine Paten in der Wilhelmstalerstraße besucht. Ich denke, Kassel hat uns viel zu bieten. Und das werden wir jetzt entdecken. Und ich freue mich auch auf die Nachbarschaft, das wunderschöne Haus, in dem wir wohnen dürfen. Mit einem Garten, den ich in Bad Hersfeld nicht hatte. Das ist für mich eine Oase des Ausatmens und wieder neu Einatmens unter Bäumen und mit dem Geruch von Gras und Blumen. Und das werden wir wieder haben. Das ist schön!

Fischer: Zum Schluss die Frage: Wo sehen Sie Ihre Stärken und vielleicht gibt es ja Schwächen, die Sie ausgemacht haben?

Natt: Die gibt es ganz sicherlich. Also, ich bin eher ein Mensch, der die Schwächen sieht bei mir selbst und weniger die Stärken. Ich glaube, eine Stärke ist, dass ich gut und gerne im Team arbeite und miteinander etwas entwickele. Und darauf freue ich mich sehr; denn im Dezernat der Prälatin arbeitet ein richtig gutes Team von Fachleuten, theologisch und verwaltungstechnisch. Ich empfinde darüber hinaus das Kollegium als ein sehr offenes und mit viel Verantwortung ausgestattetes Gremium mit einem guten Miteinander. Dort kann ich sicher meine Stärken aber auch meine Schwächen einbringen. Eine meiner Schwächen ist sicherlich, Ordnung auf meinem Schreibtisch zu halten. Da bin ich erleichtert und froh, schon im Propstamt die Sekretärin gehabt zu haben. Ich brauche auch Berater, Sachwissen. Ich kann nicht alles wissen, und es ist sicherlich eine Schwäche, dass ich einfach auch noch leben will und nicht nur ständig dienstlich denken möchte. Dann ist es manchmal nötig, dass Menschen da sind, die mir zeigen: da wartet Arbeit und da ist noch was zu tun.

Fischer: Frau Natt, ich wünsche Ihnen Gottes Segen und viel Freude für Ihre neue Aufgabe. Vielen Dank für das Gespräch.

(22. Juni 2010)

2010-06-28 7641


Interview mit Pröpstin Marita Natt

 
Pröpstin Marita Natt (Foto: medio.tv/Simmen)
Pröpstin Marita Natt (Foto: medio.tv/Simmen)

Pröpstin Marita Natt stellte sich den Fragen von medio-Redaktionsleiter Pfarrer Christian Fischer.

Fischer: Frau Natt, Sie werden in der nächsten Woche Prälatin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck sein. Was reizt Sie denn an dieser neuen Aufgabe?

Natt: Ich bin sehr gespannt darauf, die vielen unterschiedlichen Regionen und Bereiche in unserer Landeskirche kennen zu lernen. Schon als langjährige Gemeindepfarrerin und mehr noch als Pröpstin fand ich die bunte Vielfalt der Gemeinden erstaunlich. Jetzt freut es mich, die unterschiedliche Arbeit von Pfarrerinnen und Pfarrern ermutigend und kritisch zu begleiten. Das Amt der Prälatin ist  noch einmal eine ganz neue Herausforderung für mich. Ich werde alle Pfarrkonferenzen besuchen; denn ich möchte hören, welche Themen die Pfarrerschaft und die Ehrenamtlichen bewegen – jenseits der Pfarrstellenanpassung. Als große Verantwortung empfinde ich es, in dieser Zeit unsere Kirche mitzugestalten.

Fischer: Konnten Sie erste Eindrücke von Ihrer neuen Aufgabe gewinnen?

Natt: Ich konnte jetzt vier Wochen Prälatin Alterhoff begleiten, sozusagen hospitieren, in den verschiedenen Aufgabenfeldern. Das war sehr gut und hilfreich. Ich fand es aufschlussreich, dass dieses Amt nicht nur mit Personalwesen zu tun hat, sondern auch mit vielen anderen Betätigungsfeldern, über die Grenzen unserer Landeskirche hinaus. Da gibt es Austausch und Begegnungen mit Leitenden anderer EKD-Gliedkirchen. Da gibt es zahlreiche Ausschüsse und Gremien. Als für mich besonders eindrücklich nenne ich, weil es noch ganz aktuell ist, die erste theologische Prüfung, an der ich gestern in Hofgeismar teilgenommen habe.
Zum ersten Mal wieder diese besondere Atmosphäre zu erleben war spannend. Mein eigenes Examen liegt ja schon viele Jahre zurück. Es war für mich eine schöne Erfahrung, zu sehen, wie die jungen Theologinnen und Theologen sich den Fragen der Professoren stellten und zu hören, was sie an Wissen und an Esprit mitbringen. Das hat mir richtig Freude gemacht.

Fischer: Schauen wir uns die Aufgaben im Einzelnen an. Zu Ihren Aufgaben gehört es, die Landeskirche zu repräsentieren. Sie werden die theologische Stellvertreterin des Bischofs sein. Wie würden Sie die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck charakterisieren? Was zeichnet sie aus?

Natt: Ich möchte sie als eine sehr sympathische Kirche charakterisieren. Im Propstamt habe ich die Erfahrung gemacht, dass in unserer kurhessischen Landeskirche sehr genau hingeschaut wird, dass die Belange Einzelner ernst genommen werden. Da ist zum Beispiel in letzter Zeit die Frage der kleinen Gemeinden oder eben auch der großen Gesamtverbände mit all den Schwierigkeiten, die es im finanziellen Bereich gibt: Wie findet man Lösungen, damit unsere Kirche, die ja doch sehr breit im ländlichen Raum angesiedelt ist, gut in die Zukunft gehen kann? Der Pfarrstellenanpassungsplan fordert viel Kraft von uns allen, aber die Gesprächskultur ist gut.
«Kirche der Mitte» hat Bischof Dr. Hein unsere Landeskirche genannt. Das gefällt mir. Zum einen stimmt es räumlich, es stimmt aber auch von der Mitgliederzahl. Und es stimmt, finde ich, in Bezug auf die Einstellung. Es zeichnet unsere Kirche aus, dass sie besonnen war und ist, keine schnellen, voreiligen Schritte geht. Das hat uns in der Vergangenheit eine gewisse Grundsicherheit gebracht. Im Vergleich zu manch anderen Landeskirchen sind wir gut aufgestellt und unsere Pfarrerinnen und Pfarrer müssen nicht um ihre Zukunft oder um ihre Altersversorgung bangen. Im Gegenteil! Wir brauchen guten, motivierten Nachwuchs!

Fischer: Wie sehen Sie generell die Zukunft für diese Landeskirche? Es gibt ja Tendenzen, sich mit anderen Landeskirchen stärker zu verständigen, zu kooperieren. Und auch im Konzert der Gliedkirchen in Deutschland ist ja einiges in Bewegung...

Natt: Ich blicke der Zukunft, was Kirche betrifft, gelassen, ja, hoffnungsvoll entgegen. Das «Schiff» hatte schon ganz andere Stürme auszuhalten! Und wenn Sie nach Kooperation fragen: Es macht Sinn, in bestimmten Bereichen enger zusammen zu arbeiten. Gemeinsam ist man stärker, das lässt sich schön im 4. Kapitel des Predigerbuches nachlesen: «Zwei sind besser dran als nur einer, sie haben doch einen guten Lohn für ihre Mühe...». Aber ich sehe auch, dass jede Landeskirche eine sehr eigene Geschichte und, damit verbunden, Tradition hat. Ich bin eine Freundin der kleineren Einheiten, weil ich denke, gerade in der Kirche kommt es sehr stark auf Begegnung und auf persönliche Beziehungen an. Das gilt in den Gemeinden und Einrichtungen, und das gilt auch darüber hinaus. Und ich finde - wie gesagt - unsere Landeskirche ausgesprochen liebenswert. Diese herrliche Landschaft zu durchfahren ist ein Genuss! In den vier Sprengeln pulsiert so viel gemeindliches und übergemeindliches Leben, das entnehme ich Pressemitteilungen, und ich erfahre es in Gesprächen. Ich denke, mit diesen Schätzen kann man in einer überschaubaren Größenordnung wertschätzender umgehen. Alles, was zu groß wird, birgt die Gefahr, dass es unpersönlich wird, und das ist für mich mit Verlust verbunden.

Fischer: Ein Schwerpunkt Ihrer Tätigkeit wird die Personalführung der Pfarrerinnen und Pfarrer sein. Wie schätzen Sie die derzeitige Stimmung unter den Pfarrerinnen und Pfarrern in Kurhessen-Waldeck ein?

Natt: Da habe ich natürlich im Augenblick noch den Blick der Pröpstin des Sprengels Hersfeld und muss sagen, ich bin ganz positiv überrascht gewesen, wie viele Kolleginnen und Kollegen die Themen Pfarrstellenreduzierung, Zusammenlegen von Gemeinden und Zusammenarbeit in Regionen positiv und konstruktiv angefasst haben. Ich habe hier keine Depression erlebt, sondern eher das Gegenteil. Bis hin zu ganz mutigen Überlegungen. Zum Beispiel bei weniger werdenden Konfirmandenzahlen die Unterrichtssituation zu verändern oder auch übergemeindlich Schwerpunkte zu setzen. Der eine dies, der andere jenes. Also, ich glaube, da ist ganz viel Zukunft, die man positiv gestalten kann. Aber: Es wird immer auch die anderen, die die Situation eher depressiv einschätzen, geben. Und damit werde ich sicher mehr zu tun bekommen.

Fischer: Werfen wir mal einen Blick auf die Probleme. Welche Probleme in der Pfarrerschaft haben Sie wahrgenommen? Wo sagen Sie, da muss sich etwas ändern?

Natt: Es gibt sicher für manche die Sorge, wie es mit ihnen weiter geht, wenn ihre Gemeinde einer anderen Gemeinde zugeordnet wird. Allerdings muss ich sagen, das sind nicht ganz gerechtfertigte Existenzängste. Denn keine unserer Pfarrerinnen und keiner unserer Pfarrer fällt in ein Nichts, sondern sie werden, und wenn es zunächst mit einer Verfügungsstelle ist, aufgefangen. Aber da ist natürlich neben der Realität das Gefühlte: Ich muss möglicherweise das vertraute Pfarrhaus verlassen, in dem ich gelebt habe mit meiner Familie. Und da werden dann auch die Kirchenvorstandsmitglieder aktiv, die sich für ihre Seelsorger einsetzen wollen. Manchmal gibt es aber auch Probleme in diesem kirchenleitenden Team von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen. Das belastet Kolleginnen und Kollegen auch. Es bedrückt manche, dass ihre Gemeinden sich reduzieren, weil immer weniger Kinder geboren werden. Sie erzählen mir: «Ich habe nur zwei Taufen im Jahr, aber 15 Beerdigungen».
Das entspricht dann so gar nicht dem, was wir als Pfarrerinnen und Pfarrer auch gerne tun würden, nämlich aufbauen. Stattdessen begleiten wir ein Stück den Abbau. In den ländlichen Bereichen ist das oft Trauerarbeit. Und das schmerzt natürlich auch die Pfarrerinnen und Pfarrer.
Hin und wieder erlebe ich auch Vereinsamung. In manchen Dörfern stehen viele Häuser und Gehöfte leer, die Straßen sind wie ausgestorben. Die Bewohner arbeiten weit außerhalb, stehen um vier Uhr morgens auf und kommen abends um acht müde zurück. Aber vor Ort ist die Pfarrerin, der Pfarrer. Das ist nicht immer leicht; denn die Ansprechpartner, die Mitarbeitenden und Teilnehmer an kirchlichen Veranstaltungen werden weniger.

Fischer: Sie haben die Pfarrstellenanpassung schon angesprochen. Gibt es hier Felder, wo Sie besondere Akzente setzen wollen und werden?

Natt: Ich finde es sehr gut, dass in unserer Landeskirche dieser ganze Prozess «von unten» eingeleitet wurde. Man konnte in den Regionen der Kirchenkreise überlegen. Das war sicher eine hohe Belastung für Kirchenkreisvorstände und Gemeinden, aber die Pfarrer und Kirchenvorstände haben sich verständigt und Ideen entwickelt. Auch den sog. Laien, den ehrenamtlich in unserer Landeskirche tätigen Menschen, leuchtet es ein, dass wir nicht so weiter arbeiten können bei sinkender Zahl von Mitgliedern.
Meine Akzente? Da genau hin zu hören und abzuwägen. Ich glaube in der Tat, dass man nur in der Region wirklich weiß, wer sich zu wem gesellen kann, oder wo es seit 500 Jahren eine unsichtbare Mauer gibt. Vor Ort kennt man die räumlichen Verbindungen, Schule, Kindergarten, Kommunen, Gemeinsamkeiten. Ernst zu nehmen, was aus der Basis an Vorschlägen kommt, das möchte ich fortführen, so, wie ich es auch bei meiner Vorgängerin und allen, die in diesem Prozess mitdenken und -arbeiten, erlebt habe. Wichtig ist mir auch die Zusammenarbeit mit den Dekanaten und den Kirchenkreisvorständen. Bei alledem bin ich nicht allein. Herr Dreisbach ist im Dezernat der Prälatin eine ganz großartige Hilfe, der unermüdlich unterwegs und mit den Kirchenvorständen im Gespräch ist. Das finde ich ganz wichtig. Nicht von oben, wie das ja auch möglich wäre und wie es in manchen Landeskirchen geschieht, sondern wirklich aus der Basis heraus zu überlegen, wie wir unsere Landeskirche so aufstellen können, dass wir auch zukünftig segensreich das Evangelium weitergeben können.

Fischer: Das ist eine große Aufgabe. Von wem wünschen Sie sich besonders Unterstützung bei dieser schwierigen Aufgabe?

Natt: Ja, zum einen gibt es die Mitarbeitenden im Dezernat. Aber ich erwarte und wünsche mir besonders auch weiterhin die Mitarbeit und Unterstützung der Dekaneschaft. Ich achte sehr, was sie in der Vergangenheit mit den Kirchenkreisvorständen an zusätzlichen Sitzungen auf sich genommen haben. Ich wünsche mir, dass wir konstruktiv und offen miteinander kommunizieren und überlegen. Denn nur im guten geschwisterlichen Miteinander gelingt es, mutig neue Schritte zu gehen.

Fischer: Und was erwarten Sie von den Pfarrerinnen und Pfarrern?

Natt: Dass sie sich einen realistischen Blick auf die Situation in unserer Landeskirche, in der Gesellschaft, in der Welt bewahren. Dass sie weiterhin wahrnehmen, was jenseits der Fragen, die sie persönlich und in der Gemeinde belasten, an Sorgen und Nöten in der Gesellschaft existiert. Zunehmende Armut, Unfrieden, hohe Gewaltbereitschaft, um nur drei Stichworte zu benennen.
Dass sie weiterhin ihre große Verantwortung wahrnehmen, Menschen in Krisen zu begleiten, sich einzumischen, wo eine klare, evangelische Stellungnahme nötig ist. Das wünsche ich mir. Und ich wünsche mir ein Verstehen und Mittragen der Situation, in der wir uns als ihre Kirche, als ihr Arbeitgeber, im Augenblick befinden. Ich wünsche mir Solidarität mit der Landeskirche, mit den Themen, die uns beschäftigen. Auch hier gilt, dass ein starkes Band nicht so schnell zerreißt (Prediger 4,12). Ansonsten will ich sagen: Wir sind einem Herrn unterstellt, und dieser Herr verlässt uns nicht! Dass das immer wieder mit aller Freude und Gewissheit weitergegeben wird, das wünsche ich mir.

Fischer: Sie haben in Ihrem neuen Amt Personalverantwortung für Pfarrerinnen und Pfarrer in unserer Landeskirche und werden sicher auch Entscheidungen treffen, die tief in das Leben einzelner eingreifen. Was bedeutet es für Sie ganz persönlich, mit dieser Macht umzugehen?

Natt: Das Wort Macht hat mir immer schon ein wenig Probleme bereitet, weil mit dem Wort Macht leicht ein Zungenschlag von Missbrauch bis hin zur Gewalt mitschwingt. Deshalb fällt es mir schwer, in der Personalverantwortung für Pfarrerinnen und Pfarrer von Macht zu sprechen. Ich möchte eher Verantwortung sagen. Natürlich werde ich als Prälatin eine andere Aufgabe haben als ich sie bisher als Pröpstin wahrnehmen konnte. Da habe ich mich sehr stark als die Seelsorgerin gesehen.
Jetzt werde ich Entscheidungen treffen müssen, die zum Teil schmerzlich sind für die Betroffenen. Aber da gibt es immer die Möglichkeit der Gespräche. Auch hier erwarte ich, dass man sich eingestehen kann, wenn wirklich ganz gravierende Schwächen vorhanden sind oder wenn keine Möglichkeit des guten Miteinanders in bestimmten Gemeinden mit bestimmten Personen mehr besteht. Wir sind in unsere Landeskirche, in unsere Gemeinden und nicht in eine Gemeinde ordiniert. Wir sind gesandt, landeskirchenweit unseren Dienst zu tun, mit dem, was uns der Herr schenkt an Gaben und Talenten. Manchmal werde ich unter Umständen etwas anders sehen müssen als die Betroffenen. Aber ich möchte dieses Amt wirklich zugunsten unserer Landeskirche, der Gemeinden und der Menschen, die in ihnen leben, führen und meine Entscheidungen treffen.

Fischer: Was unterscheidet Frauen und Männer in leitenden Positionen?

Natt: Was unterscheidet Mütter und Väter? Also ich denke, und das finde ich auch gut so, dass Frauen in manchen Dingen vielleicht emotionaler, vielleicht auch mit anderen Facetten, urteilen. Wenn mir jemand gegenüber sitzt, habe ich vielleicht noch einmal einen anderen Blick als dreifache Mutter. Das unterscheidet mich vielleicht von meinen männlichen Vorgängern oder von einem Mann, der - wie das lange Zeit ja gewesen ist - immer nur seine Arbeit hatte und sich um viele andere Dinge nicht kümmern musste. Ich kenne die breite Palette eines Familienlebens und denke schon, dass wir Frauen keinesfalls weniger streng sind, denn gerade, wenn wir unsere Kinder ins Leben bringen müssen, dann müssen wir manches durchsetzen, was sie gar nicht so einsehen wollen. Aber vielleicht auf eine andere Art und Weise als Männer. Ich kann es nicht so beurteilen. Ich tue es. Ich bin so, wie ich bin. Und ob das nun weiblich oder männlich ist, das weiß ich gar nicht - vielleicht habe ich ja viel mehr männliche Anteile als ich denke, und es gibt viele Männer, die ganz viele weibliche Anteile haben. Ich finde es schwierig, Macht?! Ich werde diese Aufgabe so versuchen zu füllen, wie ich es eben kann, in Verantwortung und «im Vertrauen auf Gott und die Hilfe der Schwestern und Brüder».

Fischer: Für Ihre Aufgabe werden Sie Kraft brauchen. Wie gelingt es Ihnen ganz persönlich, Ihren Glauben im Alltag zu leben?

Natt: Der Tag beginnt, zusammen mit meinem Mann, mit dem Lesen der Losung, des Lehrtextes und Liedverses für den Tag. Dann haben wir schon mal das gute Wort, das Schwarzbrot, vor dem Frühstück. Ich bin aufgewachsen in einem Elternhaus, in dem Musik und Kirchenlieder eine ganz große Rolle gespielt haben. Meine Großeltern waren in der Landeskirchlichen Gemeinschaft, und es wurde viel gesungen. Ich hatte sehr früh Klavierunterricht und habe vorwiegend Gesangbuchlieder gespielt und dann auch im Gottesdienst begleitet. Daher bin ich oft unterwegs mit einem Lied, das in mir schwingt, über den ganzen Tag. Das kann etwas sehr Fröhliches sein, das kann etwas ganz Trauriges sein, je nachdem, was passiert. Letzte Woche habe ich eine sehr liebe Kirchenvorsteherin der Stadtkirchengemeinde Hersfeld beerdigt. Wir hatten zusammen «Befiehl du deine Wege» gesungen - irgendwann an ihrem Krankenbett, und das ist tagelang mit mir gegangen. Lieder spielen eine große Rolle in meinem Glaubensleben. Und, wenn ich nachts nicht schlafen kann - meistens kann ich das -  dann ist wirklich Zwiesprache im Gebet angesagt. Auch da spüre ich eine ganz große Kraftquelle. Dass ich einfach ablegen kann und sagen kann: «Herr, nimm du und lass mich spüren, was jetzt richtig ist zu entscheiden.» Und da merke ich tatsächlich, das ist etwas Wunderbares.

Fischer: Jetzt stehen Ihnen Veränderungen bevor. Wie schwer fällt Ihnen der Abschied aus Bad Hersfeld?

Natt: Er fällt uns allen schwer, weil wir Bad Hersfeld tatsächlich lieben gelernt haben. Die Stadt wird immer schöner. Jetzt im Augenblick ist Festspielatmosphäre. Das ist natürlich etwas ganz Besonderes. Von unserem Balkon aus können wir, je nachdem, wie der Wind steht, mit erleben und mit hören, was gespielt wird. Das ist ein besonderer Reiz. In der Stadtkirchengemeinde habe ich mich sehr wohl gefühlt. Wenn man durch die Straßen geht, grüßt man sich, man kennt sich, man kennt auch die Verantwortlichen in der Stadt. Es ist ein Netzwerk entstanden. Das hinter sich zu lassen, fällt meinem Mann und mir nicht leicht und unserer jüngsten Tochter, die hier ihr Abitur gemacht hat und Freunde zurücklässt, am allerschwersten.

Fischer: Sie ziehen jetzt nach Kassel. Worauf freuen Sie sich in dieser Stadt?

Natt: Einmal sind es jetzt natürlich die kurzen Wege. Ich finde es schön, zu Fuß ins Landeskirchenamt gehen zu können. Ich freue mich auf das große kulturelle Angebot, das natürlich Kassel noch einmal in einem ganz anderen Ausmaß bietet als Bad Hersfeld das bieten konnte. Der Bahnhof bringt uns überall hin. Das ist für meine Töchter extrem wichtig. Ich liebe die Landschaft rund um Kassel und möchte den Habichtswald erkunden. Mein Mann und ich wandern und fahren gerne Fahrrad. Wir wohnen in Wilhelmshöhe. Das heißt jetzt: bergauf und bergab.

Fischer: Nordhessen ist Ihnen nicht unbekannt...

Natt: Ich war ja als Pfarrerin in Gottsbüren und später in Hofgeismar-Altstadt tätig. Das waren sehr glückliche Jahre. Ich liebe die Umgebung von Kassel, als Kind habe ich oft meine Paten in der Wilhelmstalerstraße besucht. Ich denke, Kassel hat uns viel zu bieten. Und das werden wir jetzt entdecken. Und ich freue mich auch auf die Nachbarschaft, das wunderschöne Haus, in dem wir wohnen dürfen. Mit einem Garten, den ich in Bad Hersfeld nicht hatte. Das ist für mich eine Oase des Ausatmens und wieder neu Einatmens unter Bäumen und mit dem Geruch von Gras und Blumen. Und das werden wir wieder haben. Das ist schön!

Fischer: Zum Schluss die Frage: Wo sehen Sie Ihre Stärken und vielleicht gibt es ja Schwächen, die Sie ausgemacht haben?

Natt: Die gibt es ganz sicherlich. Also, ich bin eher ein Mensch, der die Schwächen sieht bei mir selbst und weniger die Stärken. Ich glaube, eine Stärke ist, dass ich gut und gerne im Team arbeite und miteinander etwas entwickele. Und darauf freue ich mich sehr; denn im Dezernat der Prälatin arbeitet ein richtig gutes Team von Fachleuten, theologisch und verwaltungstechnisch. Ich empfinde darüber hinaus das Kollegium als ein sehr offenes und mit viel Verantwortung ausgestattetes Gremium mit einem guten Miteinander. Dort kann ich sicher meine Stärken aber auch meine Schwächen einbringen. Eine meiner Schwächen ist sicherlich, Ordnung auf meinem Schreibtisch zu halten. Da bin ich erleichtert und froh, schon im Propstamt die Sekretärin gehabt zu haben. Ich brauche auch Berater, Sachwissen. Ich kann nicht alles wissen, und es ist sicherlich eine Schwäche, dass ich einfach auch noch leben will und nicht nur ständig dienstlich denken möchte. Dann ist es manchmal nötig, dass Menschen da sind, die mir zeigen: da wartet Arbeit und da ist noch was zu tun.

Fischer: Frau Natt, ich wünsche Ihnen Gottes Segen und viel Freude für Ihre neue Aufgabe. Vielen Dank für das Gespräch.

(22. Juni 2010)


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