INHALT | EDITORIAL Inhalt THEMA 4 6 7 8 9 Interview mit Bischöfin Beate Hofmann: „Position beziehen, wo die Würde von Menschen missachtet wird” Der Aktivist: Fester Stand in luftiger Höhe Der Bürgermeister: Herzschlag wie ein Kolibri Die Pfarrerin: Asyl in der Gemeinde Der Theologe: Kurskorrekturen sind nötig 10 Der Sozialarbeiter: Gemeinschaft gibt Halt 11 Die Fachreferentin: „Älterwerden? – Oh, das betrifft mich ja auch!” 12 Die Lehrerin: „Nicht so nachgiebig” 13 Der Arzt: Begleiter auf dem letzten Weg 14 Die Ruheständlerin: In die Gesellschaft hinaus 15 16 Tipps für Streitgespräche: Wenn Corona die Fronten verhärtet Gewaltfrei handeln: Das Potenzial des Dialogs ausreizen LANDESKIRCHE 17 18 21 22 Kampagnen in der EKKW Berichte von der Online-Synode Evangelische Schulen in Zeiten der Pandemie Kirchenführer schnell und einfach basteln 23 ÖKT: „Begegnung und Nähe werden fehlen” 24 25 Von Personen Abschied vom Klingelbeutel 26 Wechsel in der Blindenseelsorge 27 Aktionen zur Fastenzeit SERVICE 28 30 Termine / Kirchenmusik Kirche im Radio 30 Neu erschienen 32 Im Angesicht leerer Kirchen 2 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021 Liebe Leserinnen, liebe Leser, a n r e d u a h c S / v t . o d e m i : s o t o F beim Thema Corona gehen die Meinun- gen regelmäßig auseinander. Sind die angeordneten Gegenmaßnahmen zu hart oder zu locker? Manche finden die Regeln überzogen, andere zu lasch, wie- der andere inkonsequent. Wie soll man mit den Kindern umgehen? Und den Al- ten? Werden die Kirchen angemessen behandelt? Man muss in diesen Fragen seinen eigenen Standpunkt finden und Position beziehen. Wer schon einmal mit einem Corona-Leugner (ja, die gibt es immer noch!) gesprochen hat, weiß, wie mühsam und ärgerlich es sein kann, wenn Argumente nicht gehört werden wollen, wenn Meinungen – manchmal durch nichts gerechtfertigt – absolut gesetzt werden. Wenn Dummheit triumphiert. Doch die jetzt schon über ein Jahr andauernde Corona-Krise ist nur ein besonders krasses Beispiel für die Notwendigkeit, im Leben Position zu beziehen. Denn Haltung ist überall gefragt. In diesem Heft geht es schwerpunktmäßig um Menschen, die aufgrund ihrer christlichen Überzeugung eine klare Einstellung zeigen – im Beruf, im ehrenamtlichen Engagement, im gesell- schaftlichen und politischen Bereich. Vielleicht nicht gleich im heroischen Luther-Gestus „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, sondern eher aus einem inneren Antrieb heraus, der den Glauben an die Entscheidung für das Richtige nicht verleugnet. Mancher feste Standpunkt entsteht im Ringen mit sich selbst, vielleicht muss man auch Widerstände oder Ängste überwinden. Die folgenden Porträts und Interviews zeigen – für mich teil- weise sehr berührend –, wie Menschen für etwas einstehen, von dem sie überzeugt sind. Das zu lesen tut gut – nicht nur in Co- rona-Zeiten. Lothar Simmank Redakteur blick in die kirche Texte und Fotos aus Indien Kurz bevor Corona die ganze Welt erfasste, besuchte eine De- legation aus Kurhessen Projekte der Ausbildungshilfe in Südin- dien. Daraus ist eine Broschüre mit vielen Fotos und Texten über die Hilfsprojekte entstan- den, passend zum 60-jährigen Bestehen der Ausbildungshilfe. Kostenlos erhältlich unter T 0561 9378-385 oder Mail: ausbildungshilfe@ekkw.de www.ausbildungshilfe.de

THEMA Interview mit Bischöfin Dr. Beate Hofmann Position beziehen, wo die Würde von Menschen missachtet wird ? In einer zunehmend komplizierten Welt sind klare Haltungen gefragt, auch in der Kirche. Ist es für Sie als Bischöfin nötig und möglich, immer eindeutig Position zu beziehen? Dr. Beate Hofmann: Manchmal gibt es Situationen, in denen es schnelle, klare Entscheidungen und Positionen braucht, zum Beispiel bei der Frage: Gratuliere ich einem frisch gewählten Ministerpräsiden- ten, der mit einem politischen Tabubruch von der AfD gewählt wurde? (Anm. d. Red.: Thomas Kemmerich, FDP, war vom 5.2. bis 4.3.2020 MP im Freistaat Thürin- gen, in dem der EKKW-Kirchenkreis Schmal- kalden liegt.) Ich habe eine Nacht schlecht geschlafen und entschieden, ich gratuliere nicht. In anderen Fragen, vor allem in Di- lemmasituationen, gibt es oft keine „ein- deutige Position“, weil es gute Argumen- te für verschiedene Positionen gibt und weil letztlich jede Entscheidung auch mit Schuld beladen sein kann, zum Beispiel bei Fragen rund um Abtreibung, Präimplanta- tionsdiagnostik oder auch Sterbehilfe. ? In welchen Fragen dürfen Menschen von ihrer evangelischen Kirche Orientierung erwarten? Hofmann: Die Frage ist: Was heißt hier Orientierung? Orientierung heißt für mich: Hilfe bei der Urteilsbildung, aufzeigen, wie hier mögliche Positionen mit christlichen Leitlinien und Normen (zum Beispiel der Gottebenbildlichkeit, den Zehn Geboten, der Nächstenliebe) zusammenhängen. Aber die evangelische Kirche sagt nicht einfach: „Nur so darfst du denken oder entscheiden.“ ? Strittig wird es oft in politischen Fragen: Sollten sich Pfarrerinnen und Pfarrer überhaupt zu Politik auf der Kanzel äußern? Hofmann: Parteipolitik gehört nicht auf die Kanzel, aber biblische Texte haben oft eine politische Dimension, die dürfen wir nicht verschweigen. ? Ulf Poschardt, Chefredakteur der „Welt“, hat der Kirche kürzlich vor- geworfen, sie reproduziere „mediale linksliberale oder vermeintlich liberale ökologische Klischees“, anstatt ihre spirituellen Angebote zu stärken. Wie begegnen Sie solchen Vorwürfen? Hofmann: Das Statement trennt zum Beispiel spirituelle und ökologische An- liegen voneinander. Der Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung hat aber auch eine spirituelle Dimension. Glaube und soziale Verantwortung gehören für mich untrennbar zusammen, und da weiß ich mich in guter Gesellschaft mit den bibli- schen Texten. ? Nach kirchlichen Stellungnahmen, zum Beispiel zur Seenotrettung auf dem Mittelmeer, gibt es auch Austritts- drohungen. Wie gehen Sie damit um? Bischöfin Beate Hofmann befestigt das Schild der Aktion „Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung” an der Eingangst würdig machen. Wir versuchen, in den Di- alog mit jenen zu treten, die uns Vorwürfe machen oder mit Austritt drohen, um un- sere Haltung nachvollziehbar zu machen. So gab es beispielsweise auch in der Dis- kussion um den Dannenröder Forst einige Briefwechsel. ? An welchen Stellen hat sich die Evangelische Kirche von Kurhessen- Waldeck zuletzt öffentlichkeitswirksam positioniert – vielleicht auch gegen den Mainstream? Hofmann: Es schmerzt, aber sich sol- chen Drohungen zu beugen, widerspricht dem prophetischen Amt der Kirche. Es würde uns auch erpressbar und unglaub- Hofmann: Beim Beitritt zu „United4 Rescue” (Anm. d. Red.: „Gemeinsam Ret- ten” ist ein deutscher Verein zur Rettung von Menschen im Mittelmeer, der unter an- 4 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021

THEMA Der Aktivist: Fester Stand in luftiger Höhe Cedric Büchling ist Klimaschützer, Christ und steht beruflich bei Volkswagen am Band A utobahngegner, Christ und Mitar- beiter am Band bei Volkswagen: Cedric Büchling ist einer, der Po- sition bezieht, wenn es sein muss, auch in sechs Metern Höhe. Die ersten Novem- bernächte 2020, in denen das Thermome- ter in den Minusbereich rutschte, hat der 24-Jährige in einem Baumhaus im Kasse- ler Tannenwäldchen verbracht. Ausgerüs- tet mit zwei Schlafsäcken und einer dicken Decke, sei das ganz gut gegangen, erzählt er, nachdem er sich zum Gespräch von der hölzernen Plattform abgeseilt hat. Die Aktion war als Unterstützung für die Baumbesetzer im Dannenröder Forst gedacht, die sich gegen die Teilrodung des Waldes zum Weiterbau der Autobahn 49 einsetzen. „Es ist unverständlich, dass im Jahr 2020 noch eine neue Autobahn gebaut wird“, sagt Büchling, der aber ein- räumt, auch die Interessen der Menschen zu verstehen, die ohne Autobahn durch den starken Verkehr auf der Bundesstraße 3 belastet sind. In einer Chatgruppe seien an die 130 Kinder und Jugendliche, die sich engagier- ten, erzählt er, darunter viele Schüler. Sie wechselten sich im Baumhaus ab, das vor allem auch als Ort für Diskussionen und Informationen dienen soll. Schon bei ei- nem kurzen Besuch im Tannenwäldchen zeigt sich, dass das funktioniert: Spazier- gänger lesen die Transparente und fragen, worum es hier geht. Ein Jogger, der vor- beiläuft, ruft mit Blick auf das Baumhaus: „Cooles Ding!“ Cedric war in früheren Jahren sehr in der evangelischen Jugendarbeit der Kasse- ler Christuskirche aktiv, hat Konfirmanden- freizeiten begleitet und sich auch in der Jugendkulturkirche Cross engagiert. „Vor allem der Jugendgottesdienst hat mich an- gefixt“, erinnert er sich. Es folgte der Frei- willigendienst bei der Jugendkirche Soest. Der Kontakt zur Evangelischen Jugend Kassel besteht bis heute, nicht weit vom Baumhaus ist der Jugendbus als Zeichen der Solidarität geparkt. »Die Physik und die Natur machen keine Deals.« „Die Kirchen haben sich relativ früh positioniert“, findet Cedric und erwähnt lobend die Enzyklika „Laudato si“ von Papst Franziskus, die die Bewahrung der Schöpfung in den Mittelpunkt stellt. Zu- gleich wünsche er sich, dass die Kirchen Klimaktivist Cedric Büchling auf dem Protest-Baumhaus im Kasseler Tannenwäldchen t i l l e D / v t . o d e m i : s o t o F 6 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021 die anstehenden Veränderungen noch stärker positiv begleiteten. Wie so viele Aktivisten der Klima- schutzbewegung „Fridays For Future“ (FFF) ist auch Cedric Büchling selten um eine Zahl oder eine Studie verlegen, um seine Argumente zu untermauern. Die Verbin- dung zur Wissenschaft ist es auch, die ihn Sätze sagen lässt, die bei FFF so oft nach Kompromisslosigkeit klingen: „Die Physik und die Natur machen keine Deals.“ Aber Cedric sagt, dass Kritik und Kri- tikfähigkeit sehr wichtig seien – deswegen werde in der Bewegung viel diskutiert, denn nur so könne man eine Position be- ziehen und halten. Eine stabile Haltung ist für den 24-Jährigen auch im Beruf gefragt, denn er arbeitet – ausgerechnet – in der Automobilindustrie, genauer gesagt, bei Volkswagen in Baunatal. Dort steht der gelernte Mechatroniker in Schichtarbeit am Band. Cedric Büchling sieht das nüch- tern, er sei dort nur eine Nummer. Aber die Arbeit bei VW gebe ihm die Möglichkeit, auf Augenhöhe mit den Kollegen über die Klimakrise zu diskutieren. Warum könne VW nicht umstellen und beispielsweise Busse oder E-Bikes bauen, fragt er. Durch sein Engagement – nicht zuletzt durch die Ankündigung, das Werk mit FFF lahmzulegen, und das dann doch nicht zu tun – sei er im ganzen VW-Werk bekannt geworden. Natürlich würden ihn manche für einen Spinner halten, aber vie- len sei längst klar, dass es so wie bisher nicht weitergehen könne. Der junge Mann will überzeugen, ob im Tannenwäldchen – wo das Baumhaus übrigens nach einigen Tagen von der Stadt Kassel geräumt wurde – oder auch in der eigenen Familie. Seine Mutter, erzählt er, arbeitet bei der IG Metall in Frankfurt. Sie kenne die Fahrtstrecke von Kassel dorthin und sei für den Weiterbau der A49 gewe- sen. Doch er habe sie überzeugen können, dass so ein Bau kein Problem löse, sondern allenfalls verlagere. Inzwischen unterstüt- ze seine Mutter die Protestler im Dannen- röder Forst und backe Energieriegel für die Aktivisten. ● Olaf Dellit

THEMA Die Pfarrerin: Asyl in der Gemeinde Frauke Leonhäuser und ihre Gemeinde boten einer Iranerin Unterschlupf Gott ist auf Seite der Armen, der Be- drohten und der Verfolgten. Und wenn Gott das ist, dann sollte es seine Kirche auch sein. So lässt sich die Haltung zusammenfassen, die die Kirchen- gemeinde in Niestetal-Heiligenrode dazu gebracht hat, einer Iranerin für gut ein Jahr Unterschlupf zu gewähren. Es ist ein uralter Brauch, dass Men- schen an heiligen Orten vor Verfolgung geschützt sind – darauf geht die Institu- tion des Kirchenasyls zurück. In Heiligen- rode wandte sich der Sohn einer Iranerin eines Tages an die Kirche. Das Asyl des Sohns, erzählt Pfarrerin Frauke Leonhäu- ser, war längst anerkannt, er hatte sich im Iran politisch betätigt. Die Tochter sollte zwangsverheiratet werden. So standen die Chancen für die Mutter, die zudem krank ist, auf Asyl gut. Doch sie war über Frank- reich nach Deutschland eingereist, sodass die europäische Regelung griff, nach der sie dort ihren Antrag hätte stellen müssen. Bereits einmal war sie mit ihrer Tochter nach Frankreich abgeschoben worden, wo sie laut Leonhäuser keine Konktakte hatte, während der Sohn hier war. Im Kirchenvorstand sei die Anfrage des Sohnes kontrovers und offen debat- tiert worden, bevor er schließlich zustimm- te. Das Ziel: der Frau so lange Schutz zu bieten, bis sie ihren Antrag in Deutschland stellen kann. Für ein Kirchenasyl gibt es in den Landeskirchen genaue Regeln. Unter anderem werden die Behörden informiert, wissen also stets, wo sich die Personen be- finden – es ist keine Geheimaktion. So gab es Kontakte mit dem Bundesamt für Mig- ration und Flüchtlinge, mit einem Rechts- anwalt und mit dem Diakonischen Werk, wo Experten für Kirchenasyl tätig sind. Die Iranerin lebte in einem Raum des Gemeindehauses und nutzte dort und im t i l l e D / v t . o d e m i : o t o F Ordentlich abgeheftet: Mit einem Kirchenasyl ist auch viel Papierkram verbunden, hat Pfarrerin Frauke Leonhäuser, hier vor der Heiligenröder Kirche, festgestellt Pfarrhaus die sanitären Anlagen. Regel- mäßig war sie auch im Gottesdienst und beschäftigte sich intensiv mit dem Chris- tentum. Schon beim Einzug ins Kirchenasyl habe sie eine Bibel in persischer Sprache dabei gehabt und sich inzwischen zur Taufe entschlossen. Das hänge auch da- mit zusammen, dass sie die mit dem Islam gerechtfertigte Unterdrückungspolitik im Iran ablehne. Regelmäßig kam Besuch Für Leonhäuser und die Ehrenamt- lichen – unter anderem besuchten fünf Frauen aus der Gemeinde die Iranerin an fünf Tagen der Woche abwechselnd – aber ist das Ziel des Kirchenasyls erreicht: Die Frau darf nach langem Hin und Her ihren Asylantrag nun in Deutschland stellen. Da- zu musste sie von Heiligenrode aus noch mal in die Erstaufnahmeeinrichtung in Gie- ßen, doch auch das liegt nun hinter ihr. Die Chancen auf Asyl stehen offenbar gut. Für Pfarrerin Leonhäuser sind ein solches Engagement und der Glauben schlicht nicht zu trennen, vielmehr gebe er ihr einen festen Standpunkt. „Wir als Kir- che müssen bei bestimmten gesellschaftli- chen Fragen Stellung beziehen“, findet sie. Das könne auch bedeuten, im Widerspruch zum Staat zu stehen. Für sie sei der Blick auf den einzelnen Menschen wichtig, nicht auf eine Zahl oder einen abstrakten Fakt, sagt die Theo- login. Nächstenliebe sei die Grundlage, auf der die Kirchengemeinde der Iranerin eine Chance auf ein sicheres Leben geben wollte. Weil Gott auf der Seite der Verfolg- ten ist. ● Olaf Dellit 8 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021

THEMA Der Sozialarbeiter: Gemeinschaft gibt Halt Günter Kugler arbeitet in Hanau auch nach den rassistischen Morden weiter für Toleranz Hälfte aller Ha- nauer Sozialwoh- nungen läge in diesem Gebiet, so Kugler. Und mittendrin in die- sem „sehr bunten Stadtteil“ steht das JuZ K-Town (für Kessel-Stadt). So vielfältig w i e d i e M e n - schen hier ist auch das Ange- bot im JuZ. Es gibt Bildungs- a n g e b o t e w i e die Berufswege- Assistenz und die Schülerhilfe sowie ganz viel S p o r t . N e b e n Fußball und Ca- poeira (ein brasi- lianischer Kampf- tanz) ist es vor allem das Boxen, in dem die Kes- selstädter sportli- che Erfolge erzie- len. Entscheidend ist aber die pädagogische Begleitung, so- dass die jungen Menschen zu stärkeren Persönlichkeiten heranreifen können. Das gelte gerade für Mädchen, die hier boxen – egal aus welcher Kultur sie stammen. „Die blühen richtig auf“, sagt Kugler. Jeder und jede kann kommen, das ist der Grundsatz beim Boxen und im gesam- ten JuZ. „Du bist okay, ich bin okay“, so fasst es Kugler zusammen. Menschen zu- sammenbringen, offen sein für alle – darin sieht der 57-Jährige die christlichen Werte verwirklicht, auf die er sich beruft. Spätes- tens, wenn Ehemalige sich ehrenamtlich engagieren, sieht er die Erfolge der Arbeit. Zugleich wüssten die Jugendlichen, dass dies eine kirchliche Einrichtung ist. Es werde auch über Glauben gesprochen: „Vielen Jugendlichen ist Religion wich- tig.“ Kugler erzählt vom Grillfest im JuZ, bei dem es immer auch Schweinefleisch gebe. Denn das rege Diskussio- nen an, die Tole- ranz ermöglichten. Aber die Geschichte des JuZ K-Town ist auch eine, in der diese Toleranz mit bru- talster Gewalt bekämpft wurde, als am 19. Februar 2020 ein rassistischer Täter, der in der Nähe wohnte, zehn Menschen ermordete. Viele von ihnen gingen im Ju- gendzentrum ein und aus. Einen hatte Günter Kugler kurz vor der Tat als letzten Besucher im JuZ verabschiedet. Auf dem Heimweg kam der Sozialarbeiter am Tat- ort vorbei und sah dort Menschen liegen, Menschen, die er gut kannte. Gemeinschaft als Stütze und Halt In den Wochen nach der „Horror- nacht“ war das JuZ fast immer voll, denn viele hätten die Gemeinschaft gesucht, um sich gegenseitig zu stützen. Auch ihm sei es so gegangen, erinnert sich Kugler: „Ich konnte anfangs gar nicht alleine sein.“ Ei- ne dreistellige Zahl an Jugendlichen sei durch die Morde traumatisiert, schätzt er. Für sie und alle anderen wollten sie im JuZ Ansprechpartner sein. Doch dann kam mit Corona eine zweites Unglück, denn von heute auf morgen war die Anlaufstelle geschlossen, und nur wenig war möglich. Eine angespannte Lage: Jugendliche hätten es in ihren Wohnungen nicht aus- gehalten und sich im Freien getroffen. Das habe bisweilen die Polizei auf den Plan ge- rufen. Die doppelte Katastrophe erschwert die Arbeit in K-Town, doch Günter Kugler macht in keiner Sekunde den Eindruck, als könne er das JuZ und die Idee aufge- ben, dass es ein Platz für jeden Menschen bleibt, der kommen will. So wie für die beiden höflichen Jugendlichen an diesem Morgen. ● Olaf Dellit Nur fürs Foto mit Händen in den Taschen: Sozialarbeiter Günter Kugler vor dem Jugendzentrum in Hanau-Kesselstadt t i l l e D / v t . o d e m i : o t o F Bis zu 15 Etagen hoch schrauben sich die Wohnblocks in den Himmel und es ist sofort klar: Hier wohnen sehr viele Menschen auf engem Raum. Die fla- chen Gebäude des Jugendzentrums über- sieht man da fast. Am frühen Morgen ste- hen zwei junge Männer an der Ecke, reden und rauchen. Auf der Frage nach dem Sozi- alarbeiter antworten sie mit ausgesuchter Höflichkeit, sie hätten „den Günter“ heute noch nicht gesehen, würden aber Bescheid geben, wenn er kommt. „Der Günter", das ist Günter Kugler, seit 1999 Sozialarbeiter hier in Hanau- Kesselstadt, einem Gebiet mit einer „ho- hen sozialen Benachteiligung“, wie er es ausdrückt. Hohe Arbeitslosigkeit, Drogen- probleme, viele Alleinerziehende und Al- te, viele mit ausländischen Wurzeln. Die 10 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021

THEMA Die Lehrerin: „Nicht so nachgiebig in der Debatte“ Die Marburger Religionsleh- rerin Simke Ried bohrt mit den Schülern dicke Bretter auf der Suche nach Werten Beim Interview – pandemiebedingt am Telefon geführt – fliegt der Blei- stift nur so über den Block: Wer Simke Rieds Worte festhalten will, muss schnell sein. Die 38-Jährige spricht kon- zentriert, mit viel Emphase in der Stimme; sie klingt stark und begeistert von ihrem Thema. Ried ist Religionslehrerin an der Adolf-Reichwein-Schule in Marburg, einer beruflichen Schule, und wenn alle Fragen besprochen, die Antworten notiert sind und der nächste Termin für die Oberstudi- enrätin anliegt, bleibt das Gefühl: So eine Power-Reli-Lehrerin hätte man selbst gern gehabt! Dass ihre Schülerinnen und Schüler ein Wertesystem entwickeln, Lebensereignisse und politisches Geschehen einordnen kön- nen und gesellschaftlich handlungsfähig werden, ist ihr ein hohes Anliegen. Mit an- gehenden Malern und Lackierern Kant und Thomas von Aquin lesen und über Trans- zendenz sprechen? Gut möglich. Biologie- Assistenten für Diskussionen über Medizi- nethik und Menschenwürde interessieren? Ihr täglich Brot. Aber, das räumt sie ein, es sei „ein unglaublich dickes Brett“, das es da zu bohren gilt. Mit Sinnfragen, Krisen und Konflikten, Sterben und Tod kommt schließlich jeder Mensch in Kontakt; al- lerdings fehlen oft die Worte, sich auszu- drücken, oder der Weg, eine unabhängige Meinung zu bilden. „Wenn ich aber zum Beispiel einsteige mit der Frage: Worüber wundere ich mich eigentlich im Leben?“, sagt Simke Ried, dann seien viele schon s u l y t u a N , n i e t s e b e r G s a b o T : o t o F i „Worüber wundere ich mich eigentlich im Leben?” – fragt Simke Ried ihre Schulklasse gepackt, die zunächst vielleicht mit „Kei- ne Ahnung“ oder „Mir egal“ antworten möchten. »Im Dialog Klarheit an den Tag legen, sonst kommt man zu keinem Ergebnis!« Aber die Oberstudienrätin lässt nicht locker. Sie unterfüttert die Themen philo- sophisch und theologisch, macht sich mit den Schülern auf den langen Weg der Ur- teilsbildung beim Darstellen des jeweili- gen Problems, Sammeln von Fakten, ermit- teln von möglichen Lösungen. Erst dann, sagt sie, kommen eigene Werte ins Spiel. Aber welche sind das eigentlich? Egal, welcher Bildungsschicht die Lernenden angehören, „die sind für alle schwer zu benennen“. Also weiterbohren. Mit Erfolg: „Keiner kommt mehr mit unfundierten Statements!“ Simke Ried gibt den Raum für ehrliche Auseinandersetzung und er- mutigt, nachzufragen und zuzuhören, was der jeweils andere sagt. Im Dialog Klarheit an den Tag zu legen, heißt die Aufgabe – „sonst kommt man zu keinem Ergebnis“. Schon als Kind habe sie innerlich „al- les analysiert“, aber zunächst eher den an- deren zugehört. Als Jugendliche, damals noch in ihrer Heimat in Friesland, in der Schule und in einer politischen Jugendor- ganisation, erwachte dann das nachhal- tige Bedürfnis, „fundiert zu diskutieren.“ War sie etwa „Modell Nervensäge” für die Lehrer? Nein, das nicht, sagt sie lachend, aber bis heute sei sie halt „nicht so nach- giebig in der Debatte ...“ Zum Vorteil ihrer Schülerinnen und Schüler. Durch „Zumuten und Anleiten“ will sie deren Fähigkeiten fördern, damit sie „in der Komplexität der Welt“ nicht un- tergehen. Muss das sein, fragen manche. Geht es nicht ‘ne Nummer kleiner? Ja, es muss sein. „Wer sagt, es sei einfach, belügt dich“, hören sie dann von ihrer Lehrerin. Es geht ja nicht ums Wissen-Pauken, sondern darum, sich qualifiziert in der Gesellschaft einbringen zu können. Immer auf der Su- che nach den Werten, „nach denen wir le- ben wollen“. ● Anne-Kathrin Stöber 12 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021

THEMA Die Ruheständlerin: Hinaus in die Gesellschaft gehen Pfarrerin Eveline Valtink über Antisemitismus und jüdisch-christliche Zusammenarbeit Seit knapp zwei Jahren ist sie im soge- nannten Ruhestand. Aber was heißt das schon bei ihrem Tätigsein in drei Vorständen – seit 18 Jahren in der Gesell- schaft für Christlich-Jüdische Zusammenar- beit (cjz); bei Artheon, der Gesellschaft für Gegenwartskunst und Kirche, und auch im Kulturnetz Kassel e.V. Einsatz gegen Ausgrenzung und Antisemitismus Pfarrerin Eveline Valtink (68) gibt zu: Er kam „völlig überraschend“, der Über- gang zum „Leben in Ruhe“ – vom Pro- jektmanagement bei der Landeskirche, wo sie zuletzt für die Reformationsdeka- de zuständig war und beispielsweise den „Konfivent“ mit 2000 Jugendlichen wupp- te. Neben ihrem derzeitigen Engagement beim Projekt „Einkommen schaffen“ für die durch Corona arbeitslos gewordenen freien Künstler ist sie besonders für die cjz aktiv. Von beruflichen Pflichten befreit, ist es dennoch „ihr Leben“, dass sie sich gegen Ausgrenzung und Antisemi- tismus einsetzt, eines der wichtigs- ten Anliegen der Gesellschaft für jüdisch-christliche Zusammen- arbeit, die nach der Shoa ent- standen ist – im Bewusstsein der Schuld, die auch die Kirche aufgrund ihres jahrhunderteal- ten Antijudaismus auf sich ge- laden hat. Dialog und Erinnerungskultur 80 Gesellschaften sind es bundes- weit, 150 Mitglieder gibt es in Kassel, an sie hat Eveline Valtink gerade den neu- esten Rundbrief geschrieben. Ihr Job ist es, aktuelles Geschehen – wie beispielsweise im vergangenen Jahr den Anschlag von Halle – zu reflektieren, aber vor allem or- ganisiert sie gemeinsam mit ihren Kolle- ginnen etwa 20 Veranstaltungen im Jahr, die im weitesten Sinne mit jüdisch-christli- chem Dialog und Erinnerungskultur zu tun haben, organisiert Veranstaltungen zur jährlichen „Woche der Brüderlichkeit“, wie die sogenannte Doppelschriftauslegung oder die jüdische Bibelwoche. Anlässlich des Anschlags auf die Synagoge in Halle wurden Mahnwachen an der Kasseler Syn- agoge eingerichtet, im Corona-Jahr gab es Online-Veranstaltungen zum Thema Ver- schwörungstheorien, in denen trauriger- weise immer noch viele judenfeindliche Stereotypen auftauchen. »Es hat mich gereizt, an der Schnittstelle zwischen Kirche und Gesellschaft zu arbeiten.« Arbeit an der Schnittstelle Dass sie sich zum Vermitteln zwischen Kirche und Gesellschaft hingezogen fühlt, war für die damals erst 30-jährige Pfar- rerin Valtink schon klar, als sie nach vier Jahren in der Gemeinde als Studienleite- rin an die Ev. Akademie nach Hofgeismar wechselte. „Es hat mich gereizt, an der Schnittstelle zwischen Kirche und Gesell- schaft, Kirche und Kultur zu arbeiten“, sagt sie heute. Extrem gut vernetzt Politisiert wurde sie bereits mit 16 Jahren, auf dem Kirchentag in Stuttgart 1969. Es ging um Gerechtigkeit und die Erkenntnis, dass Christsein ganz viel mit Politik zu tun hat und sich nicht in Fröm- migkeit und persönlichem Gottesbezug erschöpft. Dies wurde ihr zum „Schlüsselereignis im Leben“. In ihr heutiges Tun flie- ßen schließlich zehn Jahre als Leiterin des Evangelischen F o r u m s m i t ein, das sie ab 1995 aufbau- te, wie auch ihre Zeit als A k a d e m i e - direktorin in Hofgeismar. E x t r e m g u t vernetzt, kann s i e s o i m m e r wieder Menschen zusammenbringen, stets nach dem Bibel- wort „Suchet der Stadt Bestes“. ● Anne-Kathrin Stöber Pfarrerin Eveline Valtink ist evangelische Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Kassel e.V. 14 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021

THEMA Das Potenzial des Dialogs ausreizen Dr. Petrovic-Ziemer im Interview über gute Diskussionen und eine schöne Beleidigung K onflikte ohne Gewalt beilegen und bearbeiten, das hat sich der Verein „Gewaltfrei handeln” in Diemel- stadt-Wethen auf die Fahnen geschrie- ben. Dr. Ljubinka Petrovic-Ziemer ist dort Bildungsreferentin. Im Interview erklärt sie, wie eine fruchtbare Diskussion gelingt. ? Was ist der schlechteste Einstieg, um eine Diskussion zu beginnen? Dr. Ljubanka Petrovic-Ziemer: Der schlechteste Einstieg wäre, wenn Sie zei- gen, dass Sie am Gespräch nicht interes- siert sind. Desinteresse, Respektlosigkeit und Voreingenommenheit sind hinder- lich für eine gelingende Kommunikation. Wenn Ihr Gegenüber spürt, dass Sie alles zu wissen glauben und Sie belehrend auf- treten, gelingt kein guter Einstieg. ?Und der beste? Petrovic-Ziemer: In der gewaltfreien Kommunikation ist es wichtig, den ande- ren wirklich verstehen zu wollen. Unter- stellungen, Vorurteile, Stereotypisierun- gen und vorschnelle Schlüsse sollte man, so gut es geht, vermeiden. Lieber sollte man immer wieder nachfragen. Das setzt voraus, dass Sie ein genuines Interesse an dem anderen haben. Beim Gegenüber darf nicht das Gefühl aufkommen, es soll mani- puliert oder gelenkt werden. ?In unserem Heft geht es um „Positi- on beziehen“. Stimmt das Sprichwort „Der Klügere gibt nach“ eigentlich? Petrovic-Ziemer: In meiner Friedensarbeit habe ich gelernt, Menschen nicht in be- stimmte Kategorien einzuordnen. Ich habe mit klaren Abgrenzungen wie klug und un- klug meine Probleme. Wir haben alle eine gewisse Weisheit in uns. Das Kunststück ist, den anderen so in ein Gespräch einzu- binden, dass er oder sie ihre Klugheit und Weisheit entfalten kann. Aber ich möchte der Frage nicht aus- weichen. Wenn ein Gespräch in eine Sack- gasse führt, wenn man nicht deeskalieren kann und alle Gesprächskünste nicht hel- fen, kann es besser sein, ein Gespräch zu beenden, bevor es eine destruktive Wen- dung nimmt. ? Kann ich eine Position, einen grund- legenden Wert bewahren, ohne den anderen zu verärgern? Petrovic-Ziemer: Ja, wenn die andere Person nicht das Gefühl hat, sie soll von einer Position überzeugt werden. Eine ge- waltfreie Haltung wäre, wirklich zu akzep- tieren, dass andere eine andere Meinung haben können. Wenn aber eine Position bedrohlich ist, wenn sie andere Menschen in Bedrängnis bringt, wenn gar nicht mehr mit Fakten argumentiert wird, dann muss man auch die Konsequenzen einer solchen Positionierung deutlich machen. Man kann die eigene Haltung bewahren und im Ge- spräch mit anderen bleiben. ? Was tue ich, wenn ich mit etwas konfrontiert werde, was mir völlig widerstrebt, weil es zum Beispiel men- schenfeindlich oder rassistisch ist? Petrovic-Ziemer: Es ist eine legitime Hal- tung, zu sagen: Mit Rechten rede ich nicht, weil es nichts bringt. Ich persönlich denke, man muss das Potenzial des Dialogs aus- reizen, so lange es geht. Diese Gabe zu nutzen, das habe ich auch im Krieg in Bos- nien und in der Nachkriegszeit versucht. Wenn im Gespräch eine menschen- feindliche Äußerung fällt, muss man sehr genau nachfragen und diese Menschen auch in Erklärungsnot bringen und fragen: Woher wissen Sie das? Sind Sie in Kontakt mit diesen Menschen, über die Sie sich so feindlich äußern? Falsche Behauptungen sollte man immer wieder korrigieren, vo- rausgesetzt, man hat das Faktenwissen. Man kann Widersprüche aufzeigen und so den anderen animieren, über das nach- zudenken, was er da eigentlich gesagt hat. ? Zum Schluss: Was ist die schönste Beleidigung, die Sie in einer Diskus- sion gehört haben? Petrovic-Ziemer: Ich erlebe es als eine schöne Beleidigung, wenn man sagt: Du bist jetzt aber zu emotional. Ich erinnere 16 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021 mich an eine Diskussion in einer gemischt deutsch-bosnischen Gruppe, in der jemand aus Deutschland sein Anliegen vorgetra- gen hat. Ein Bosnier sagte mir: „Aber da ist doch gar keine Emotion dahinter, ich verstehe ihn nicht.” Das Wort „sachlich“ gibt es im Bosnischen gar nicht. Ich fand bemerkenswert, dass er gesagt hat: Wenn das Gegenüber keine Emotion zeigt, weiß ich gar nicht, ob ihm das Anliegen wirklich wichtig ist. Ich persönlich finde es wich- tig, dass es sachlich zugeht, aber man darf auch den Kontakt zu den eigenen Gefüh- len nicht verlieren. Denn die sagen sehr viel darüber aus, in welchem Verhältnis wir zu einem Menschen und zur Welt stehen. ? Und das schönste Kompliment? Petrovic-Ziemer: Ich freue mich, wenn Menschen merken, dass ich transparent und inklusiv kommuniziere, also viele Men- schen einbinde und mitnehme. ● Fragen: Olaf Dellit t i l l e D / v t . o d e m i : o t o F ZUR PERSON Dr. Ljubanka Petrovic-Ziemer (51) ist seit Juli 2020 Bildungsreferentin bei „Ge- waltfrei handeln”. Sie wurde in Bosnien ge- boren, kam mit ihren Eltern als Kind nach Deutschland, kehrte aber später zurück. Sie studierte in Kroatien und Sarajevo Literatur- und Kulturwissenschaften, pro- moviert wurde sie an der Universität Trier. Ein weiterer Schwerpunkt ist Friedensar- beit, unter anderem im Friedenszentrum Osijek in Kroatien. Petrovic-Ziemer wohnt in Kassel und ist verheiratet. www.gewaltfreihandeln.org

LANDESKIRCHE Das Präsidium der Synode im Landeskirchenamt: von links Vizepräsident Dr. Volker Knöppel, Prälat Bernd Böttner, Bischöfin Dr. Beate Hofmann, Präses Dr. Thomas Dittmann, Dr. Isabel Schneider-Wölfinger und Dr. Volker Mantey a n r e d u a h c S / v t . o d e m i : o t o F Hoffungsbilder für die Zeit danach Bischöfin Hofmann träumt von einem Sängerfest nach Corona und will die Kirchen-Digitalisierung vorantreiben Die Bischöfin der Evangelischen Kir- che von Kurhessen-Waldeck, Beate Hofmann, hat eine weitere Digita- lisierung der Kirche auch nach dem Ende der Corona-Pandemie angekündigt. Mit neuen digitalen Formaten wie Andachten oder Gottesdiensten habe es während der Krise viele gute Erfahrungen gegeben, sag- te Hofmann auf der digitalen Landessyno- de Ende Januar. „Kirche nach Corona wird nicht mehr so sein wie Kirche vor Corona“, sagte Hof- mann. Um die Kirche auf diesem Gebiet voranzubringen, sei die Stelle eines Beauf- tragten für Digitalisierung ausgeschrieben worden. Die Bischöfin zeigte Verständnis dafür, dass viele Menschen angesichts der Dauer der Krise Erschöpfung verspürten. Hier könnten Bilder von der Zukunft helfen. Ein solches Bild sei etwa, an Kar- freitag Kerzen für die an Corona gestor- benen Menschen zu entzünden und ihrer zu gedenken. Aber auch die Vision eines großen Sänger- und Bläserfestes im Spät- sommer mache ihr Mut. „Ich träume da- von, dass der Leib Christi in seiner ganzen Vielfalt von Haupt- und Ehrenamtlichen wieder sichtbar wird“, sagte sie. Hofmann regte eine Auseinanderset- zung über die Aufgabe der Kirche an. Auf- trag der Kirche sei die Kommunikation des Evangeliums als christlicher Botschaft mit den Menschen der Welt, betonte sie. Da- bei seien sechs Grundaufgaben Konsens: Bewahrung, Vermittlung und Deutung des Evangeliums, die Eröffnung von Räumen für Religion, individuelle Lebensbeglei- tung, Eröffnung von Gemeinschaft, Hilfe für Menschen in ihren Lebensverhältnissen sowie das Erheben der christlichen Stimme in der Gesellschaft. »Kirche nach Corona wird nicht so sein wie Kirche vor Corona.« Wege der Kooperationen untereinander voranzuschreiten. Die Diskussionen über den Auftrag der Kirche sollen auch auf den Kreissynoden stattfinden, kündigte Hofmann an. Auch auf Pfarrkonferenzen und weiteren Zusam- menkünften solle das Thema bedacht wer- den. Darüber hinaus sei die Entwicklung eines digitalen Tools geplant, damit sich Menschen auch außerhalb dieser Veran- staltungen an der Diskussion beteiligen könnten. ● epd Zudem benannte sie fünf Kriterien, an denen die Grundaufgabe der Verkündi- gung des Evangeliums gemessen werden sollen. Diese seien: Kontaktflächen bieten, Kommunikation fördern, Ausstrahlung för- dern, Nachhaltigkeit sowie motivierend, energetisierend und dynamisierend zu sein: „Unser Anliegen ist es, Kriterien zu finden, über die wir unsere Entscheidun- gen begründen und kritisch beleuchten können.“ In Zukunft gelte es unter anderem, Kontaktflächen zu Menschen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren besonders auszubauen, erklärte Hofmann. Der digi- tale Raum habe hier neue Möglichkeiten geschaffen. Menschen, die nicht in einen analogen Gottesdienst kämen, würden die Angebote digitaler Verkündigung mit Interesse wahrnehmen. Die Bischöfin er- mutigte die Gemeinden zudem, auf dem Diakonie: Arme besser absichern Die Corona-Krise zeigt laut hessischem Diakoniebericht, dass eine ausrei- chende sozialstaatliche Sicherung von Menschen in Armut noch immer nicht ge- regelt ist. Es bleibe daher Aufgabe der Di- akonie, sich anwaltschaftlich für existenz- sichernde Transferleistungen einzusetzen, heißt es in dem der Synode vorgelegten Bericht. Die ungleichen Bildungschancen für Kinder und Jugendliche aus armen Familien seien durch die Schließung der Schulen weiter vergrößert worden. Ein Meilenstein im vergangenen Jahr sei die gemeinsam mit den beiden evangelischen Kirchen in Hessen initiierte Corona-Nothil- fe gegen Armut gewesen, heißt es im Be- richt. epd 18 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021

LANDESKIRCHE Hinter den Kulissen: Pfarrer Diethelm Meißner sorgte mit viel Technik und Kollegen für den reibungslosen Ablauf der Synode a n r e d u a h c S / v t . o d e m i : s o t o F Synode: Mit Maske und drei Monitoren So eine Synode gab es noch nie: das Präsidium im Landeskirchenamt in Kassel vor Kameras und die Synoda- len über das gesamte Gebiet von Kurhes- sen-Waldeck verteilt an ihren Computern. Diese Art von Tagung war mit hohem tech- nischem Aufwand verbunden. Auch wenn es rechtlich nicht möglich war, dass digital entschieden wurde, sollte alles reibungslos ablaufen (siehe Kasten rechts). Für die Tagung gab es ein 16-seitiges Drehbuch, berichtet Pfarrer Dr. Diethelm Meißner, Leiter des Referats landeskirch- lichen Erwachsenenbildung, der viele Er- fahrung mit der Durchführung digitaler Konferenzen hat und hinter den Kulissen dafür sorgte, dass jeweils die richtigen Personen auf den Bildschirmen zu sehen waren. In sechs bis sieben Wochen sei all das geplant worden. „Das ist eine große Gemeinschaftsleistung“, erklärte Meißner, besonders eng habe er mit Bettina Groß aus der Synodalgeschäftsstelle und Tim Bauschmann (Informations- und Kommu- nikationstechnik) zusammengearbeitet. Hinzu kamen externe Ton- und Kame- raleute sowie die IT-Mitarbeiter aus dem Landeskirchenamt, die im Hintergrund da- für sorgten, dass die Technik lief und die technische Fragen beantworteten. Die On- line-Redaktion aus dem Medienhaus hatte den Live-Stream bei YouTube im Blick. Das aus sechs Personen bestehende Präsidium der Synode saß auf einem Podium im Lan- deskirchenamt. Alle, die in diesem Raum zu tun hatten, absolvierten zuvor einen Corona-Schnelltest. Kirchengesetze werden oft von Synodalen „eingebracht“, also der Synode vorgestellt. Die Reden dazu waren im Vorfeld von Christian Schauderna (Me- dienhaus) aufgezeichnet worden. Am Regiepult im Landeskirchenamt war Pfarrer Meißner dafür verantwort- lich, dass die Beiträge an der richtigen Stelle eingespielt wurden, so wie er auch auswählte, welche Perspektive gerade verwendet wurde – zwei Kameras waren aufgebaut. Technisch gab es verschiede- ne Kanäle. Die Öffentlichkeit konnte die Tagung live im Internet verfolgen (auch nachträglich noch bei YouTube anzuse- hen), während die Synodalen selbst über das Konferenzsystem Zoom an der Sitzung teilnahmen. Parallel lief das Programm ITM-Slides, mit dem Tagesordnung und Unterlagen einsehbar waren, aber auch Anträge gestellt werden konnten. Dort wurden auch die Rednerlisten geführt, die wiederum Meißner im Blick behielt. Dafür arbeitete er mit drei Bildschirmen. Eingeplant waren auch Arbeitsgrup- pen. Aus Videokonferenzen sind sogenann- te „Breakout Sessions“ bekannt, für die Teilnehmer in zufälligen Runden zusam- mengeschaltet werden – so etwa beim Ad- ventsempfang der Landeskirche im Dezem- ber. Das war bei der Synode komplizierter, weil jede Gruppe von einer bestimmten Person geleitet werden sollte. Es hätte ja auch wenig Sinn ergeben, wenn beispiels- weise das gesamte Präsidium durch Zufall in eine AG gerutscht wäre. Die digitale Synode sei insgesamt „sehr komplex, weil vieles aufeinander be- zogen war“, sagte Meißner, und deswegen auch nur mit einem guten Team zu stem- men. Und wenn alles gut klappe, dann mache das auch richtig Spaß. ● Olaf Dellit KEINE BESCHLÜSSE MÖGLICH Die erste digitale Synode der EKKW hat sich mit einer Änderung der Grundord- nung der Landeskirche befasst. Ein Gesetz sollte in Zukunft Tagungen und Abstim- mungen der Synode in Form von Videokon- ferenzen ermöglichen. Laut Präses Thomas Dittmann ist nach der geltenden Grund- ordnung die Synode als virtuelle Versamm- lung nicht beschlussfähig. Ursprünglich sollte das Gesetz auf einer Präsenztagung am 23. Januar verabschiedet werden, die aber wegen Corona abgesagt wurde. Über Gesetze konnte so nicht rechtsverbindlich abgestimmt werden. Allerdings wurde di- gital ein Meinungsbild eingeholt. Der Rat der Landeskirche arbeitet ersatzweise mit Verordnungen. epd www.ekkw.de 20 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021

LANDESKIRCHE Kirchenführer schnell und einfach basteln Das Netzwerk Kirchenpädagogik bietet ein kostenloses Werkzeug zur Flyer-Erstellung an Jede Kirche hat eine Geschichte zu erzählen, und in jeder Kirche gibt es auch Inventarstücke, die vorgestellt werden wollen. Viele Objekte sind aber heute nicht mehr selbsterklärend, Besu- cher benötigen Informationen, um die Be- deutung einordnen zu können. Es gibt Besonderheiten und versteckte Schätze, die nicht gleich ins Auge fallen und eine detailliertere Präsentation erfor- dern, zum Beispiel die verborgenen Fres- ken in der Kirche in Ahnatal-Weimar, das Gedenkbuch für die im Krieg gestorbenen jungen Langendiebacher, die auf dem Steinboden eingelassenen Umlaufbahnen der Planeten in Sandershausen. Um Gemeinden eine Hilfestellung an die Hand zu geben, einen schriftlichen Kir- chenführer zu erstellen, hat das Netzwerk Kirchenpädagogik ein kostenloses Online- Tool entwickelt. Da Kirchen für Touristen, wie zum Beispiel Radfahr- und Wander- gruppen, immer interessanter werden, sollte in jeder Offenen Kirche ein Kirchen- führer ausliegen. Leider ist dies in vielen Kirchen noch nicht der Fall, Besucher fin- den selten Informationen über Geschichte, Inventar und Architektur. Kirchengemein- den stehen oft vor der Frage, wie sie einen eigenen, ansprechenden Flyer erstellen können, ohne dass hohe Kosten entstehen. Viel Gestaltungsspielraum Hier setzt die Idee zu einer Online-Vor- lage an, in der die Texte zur Kirche und entsprechende Fotos von den jeweiligen Interessierten selbst eingestellt werden können. Bei der Entwicklung war folgen- der Grundsatz handlungsleitend: So auf- wendig wie nötig und so viel Gestaltungs- spielraum wie möglich. Dieser Aufgabe hat sich eine Arbeits- gruppe des Netzwerks Kirchenpädagogik angenommen mit dem Ziel, ein Tool zu erschaffen und anzubieten, mit dem sol- che Flyer einfach erstellt werden können. Auch für die mittlerweile mehr als 50 aus- gebildeten Kirchenführerinnen und -füh- rer soll das eine konkrete Hilfe sein. Die nächste Kirchenführerausbildung startet übrigens im September 2021. Den Online-Kirchenführer haben die landeskirchlichen Fachleute Hubert Heck, Regina Ibanek und Nina Wetekam refe- ratsübergreifend mit finanzieller Unterstüt- zung der Arbeitsgemeinschaft Erwachse- nenbildung konzipiert und erarbeitet. Die technische Umsetzung und Programmie- rung entwickelte die Firma von René Knip- schild aus Korbach, die grafische Beratung erfolgte durch Antje Köhler (Die Visioma- ten). Das Tool steht auf der Internetseite des Netzwerks Kirchenpädagogik und kann kostenfrei von den Gemeinden ge- nutzt werden. Die notwendigen Zugangs- daten sind über offenekirchen@ekkw.de abrufbar. ● red www.kirchen-paedagogik.de So könnte es aussehen: Muster eines Kirchen-Flyers, wie er mit dem neuen Online-Tool erstellt werden kann 22 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021

LANDESKIRCHE Von Personen Ulrich Briesewitz (51), Pfarrer und zu- letzt Landkreisbeauf- tragter für Polizei- und Notfallseelsorge im Main-Kinzig-Kreis, ist neuer Polizeipfar- rer der Evangelischen Kirche von Kurhes- sen-Waldeck. Er wur- de Nachfolger von Pfarrer Kurt Grütz- ner (65), der nach über drei Jahrzehn- ten als Polizeiseelsor- ger am 1. Dezember 2020 in den Ruhestand trat. Grützner habe die Polizeiseelsorge maßgeblich geprägt und bereichert, wür- digte Bischöfin Beate Hofmann dessen Arbeit. 1987 trat er eine halbe Pfarrstelle in Schauenburg-Hoof an, mit der anderen Hälfte wurde er Polizeipfarrer. 1994 wurde daraus eine hauptamtliche Pfarrstelle für Polizeiseelsorge, 2006 erfolgte Grützners Ernennung zum Landespolizeipfarrer. Die Polizei- und Notfallseelsorge orien- tiert sich mit ihrem Angebot an der staatli- chen Struktur. Pro Landkreis gibt es einen beauftragten Pfarrer für Polizei- und Not- fallseelsorge. Den Beauftragten zur Seite steht jeweils ein Polizeibeamter, der die entsprechende Polizeidirektion im Polizei- seelsorgebeirat vertritt. Prof Dr. Freimut Schirrmacher (56) beendete nach sechs Jahren seinen Dienst a l s D i r e k t o r u n d Schulleiter des Evan- gelischen Fröbelse- minars der Diakonie Hessen in Kassel und Korbach. Zukünftig möchte er sich stärker im Bereich Coa- ching, Beratung, Supervision und in seel- sorgerlichen Bezügen engagieren, wie er mitteilte. Der Pfarrer wurde auf eigenen Wunsch hin zum 16. Januar 2021 von seinen dienstlichen Verpflichtungen frei- gestellt. Bis zur Neubesetzung nimmt die derzeitige stellvertretende Schulleiterin An- drea Matheis die kommissarische Leitung wahr. An der evangelischen Fachschule, die im vergangenen Jahr 130 Jahre alt wurde, sind zurzeit 970 Schüler und Stu- dierende. M o l w a n d e J o b Hencock Ubane, Bischof der West-Di- özese der Ev.-Lutheri- schen Kirche in Süd- afrika und leitender Bischof im südlichen Afrika, ist im Alter von 60 Jahren an einer Covid--Erkrankung verstorben. Seit 1984 sind die Evangeli- sche Kirche von Kurhessen-Waldeck und die West-Diözese in einer Partnerschaft auf Kirchenleitungsebene, aber auch über die Kirchenkreise Eder, Hanau und Marburg sowie über die Ausbildungshilfe mitein- ander verbunden. Bischof Ubane war zu- letzt 2019 zum Wechsel im Bischofsamt in Kassel. Ubane wurde 1961 in einem Dorf außerhalb des Großraums Pretoria gebo- ren. Er verstarb nur zwei Tage nach seinem 60. Geburtstag und wenige Stunden nach seinem jüngeren Bruder im Krankenhaus Thlaban. Er hinterlässt seine Ehefrau Ke- dibogetse und drei Töchter. Dr. Jens Klingebiel (49) und Tobias Radebold (50) sind seit Jahresanfang neue Chefärzte der Abteilung Allgemeine Orthopädie, Endoprothetik, Unfall- und Handchirurgie in der Orthopädischen Kli- nik Lichtenau und lösen Dr. Franz-Josef Müller auf dieser Position ab. Im medi- zinischen Klinikalltag der diakonischen Einrichtung arbeiteten Klingebiel und Ra- debold auch schon bisher als Oberärzte häufig im Team zusammen. Dr. Thorsten Lat- zel (50) wird Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland. Die Landessynode wählte den 50-jäh- rigen Direktor der Evangelischen Aka- demie Frankfurt an die Spitze der Kirche, zu der rund 2,4 Millionen Menschen ge- hören. Er tritt die Nachfolge von Manfred Rekowski an, der im März nach achtjähri- ger Amtszeit in den Ruhestand geht. Der promovierte Theologe setzte sich im ersten Wahlgang mit 113 Stimmen gegen zwei Mitbewerber durch. Nach seinem Vikariat in Rodenbach (Kurhessen-Waldeck) war Latzel von 2002 bis 2005 als Pfarrer in Erlensee-Langendiebach tätig. Dr. Martin Streck (58), Pfarrer in Main- tal-Dörnigheim und bislang landeskirch- licher Beauftragter für Blindenseelsorge, ist seit Jahresanfang neuer Catholica-Be- auftragter der EKKW. Seit seinem Theo- logiestudium öku- menisch engagiert, leitete er das Junge Forum Orthodoxie der EKD und den Jun- gen Dialog zwischen EKD und der Rumänischen Orthodoxen Kirche und ist außerdem Delegierter in der ACK Hessen-Rheinhessen. Streck ist Nachfolger von Pfarrer Wolf- gang Kallies (64), der in den Ruhestand ging. Während seiner neun Dienstjahre als Catholica-Referent hat sich Kallies für die interkonfessionelle Ökumene eingesetzt, gute Beziehungen zum Bistum Fulda und weiteren Bistümern gepflegt, ökumenische Begegnungen und Gottesdienste begleitet und sich um die christlichen Gemeinschaf- ten und Kommunitäten in Kurhessen-Wal- deck gekümmert, wie Dezernentin Claudia Brinkmann-Weiß betonte. 24 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021

LANDESKIRCHE Schwellen überwinden helfen Wechsel in der landeskirchlichen Blinden- und Sehbehindertenseelsorge schen mit Sehbehinderung. Was qualifiziert einen Pfarrer als Blin- denseelsorger? Dr. Streck muss nicht lan- ge überlegen: Anders als in der Arbeit mit Gehörlosen muss er keine Gebärdenspra- che lernen, um mit seinem Gegenüber zu kommunizieren. Blindengemeinden gibt es nicht. Es gehe ums Sprechen und Hören, eigentlich brauche es sonst keine speziel- len Qualifikationen, sagt der Pfarrer. Als er 2001 seine erste Blindenseelsorger-Konfe- renz besuchte, nahmen ihm Kollegen, von denen einige blind waren, die Schwellen- angst vor dem Job. Seine Erkenntnis: Der Sehende müsse lernen, dass sein Blick nicht erwidert wird. Gleichzeitig sei er ge- fordert, aktiv mit den Augen bei seinem Gegenüber zu bleiben. „Blinde haben ei- nen siebten Sinn für so was“, weiß Streck. Heutzutage sorge der Inklusionsan- spruch für eine frühzeitige gesellschaftli- che Einbindung von Menschen mit Han- dicap – auch in Kirchengemeinden. Beim barrierefreien Zugang zu kirchlichen Ge- bäuden sei manchmal Beratung gefor- dert. Zunehmend habe es die kirchliche Blindenseelsorge mit älteren Menschen zu tun, diese hätten Unterstützung und Ge- meinschaft besonders nötig. Dies ist auch die Erfahrung von Pfarrer Rahn: „Fast alle, die ich treffe, sind im Rentenalter“, sagt er. Mit seinem Seelsorgeauftrag will er sich nun – in gesamthessischer Perspektive – um sie kümmern. ● Lothar Simmank INFOS Evangelische Blinden- und Sehbehin- dertenseelsorge Kurhessen-Waldeck: Pfr. Jonas Rahn T 0561 583339 kassel.blindenseelsorge@ekkw.de Der Dachverband der evangelischen Blinden- und evangelischen Sehbehinder- tenseelsorge DeBeSS hat seine Geschäfts- stelle in 34117 Kassel, Ständeplatz 18 T 0561 72987161 www.debess.de sich auf die Blindenseelsorge einzulas- sen, sagt Streck. In den Begegnungen mit Menschen ging es ihm um Beteiligung, Integration, bar- rierefreie Kom- munikation und a u c h d a r u m , dass der christ- l i c h e G l a u b e helfen kann, mit d e m S c h m e r z u m z u g e h e n , den der Verlust der Sehkraft für viele Betroffene bedeute. Denn, so Streck: „Blindwerden ist ein Trauerprozess.“ Pfr. Dr. Martin Streck Zur Geschichte der Blindenseelsorge In der EKKW war es der Marburger Pfarrer Hans Rupp (1930–2003), seit sei- ner Geburt stark sehbehindert und später erblindet, der diesen Dienst aufbaute. Ab 1967 war er Geschäftsführer des Christli- chen Blindendienstes, den es heute nicht mehr gibt. Am Standort der Blindenstudi- enanstalt in Marburg befand sich der Seel- sorger im Zentrum der Community. Vieles drehte sich hier um die Brailleschrift, mit der Blinde Texte ertasten können – auch die Lutherbibel, die 1928 nach 24-jähriger Übersetzungsarbeit in vielen Punktschrift- Bänden erschien. Heute freilich schaffen digitale Bibelausgaben und Hörbücher neue Nutzungsmöglichkeiten für Men- k c o t S e b o d A : o t o F t a v i r p : s o t o F Wenn Pfarrer Jonas Rahn (33) aus Fuldabrück-Bergshausen zu Bezirkstreffen des Blindenbun- Pfr. Jonas Rahn des eingeladen wird, geht es ums „Sehen und G e s e h e n w e r - den“. Das meint er natürlich im übertragenen Sinn, denn die meisten seiner Gesprächspart- ner können gar nicht oder nur sehr eingeschränkt sehen. Rahn hat zum Jahresanfang die landes- kirchliche Blinden- und Sehbehinderten- seelsorge übernommen – mit einem Viertel Dienstauftrag ist er nun offiziell in ganz Kurhessen-Waldeck für diese Zielgruppe zuständig. Zu rund 200 Leuten hält er Kontakt, lädt zu Blindensonntagen, Frei- zeiten und anderen Veranstaltungen ein – in Corona-Zeiten vielfach nur über Telefon oder Videokonferenzen. Ja, gerade Blinde nutzen diese Kommunikationsplattformen eifrig! Das weiß auch Dr. Martin Streck (58). Der Pfarrer aus Maintal-Dörnigheim arbei- tet seit zwei Jahrzehnten in der Blinden- seelsorge, schied aber kürzlich aus diesem Dienst aus, um Catholica-Beauftragter der Landeskirche zu werden. Wenn er auf die Jahre seiner Tätigkeit zurückblickt, könne er seinem Nachfolger nur Mut machen, 26 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021

SERVICE Termine › Zum aktuellen Stand bitte Veranstalter kontaktieren SEMINARE / TAGUNGEN Gefahren des Web 4.3. | online Mit dem „Internet der Dinge“ hat die nächste Entwicklungsstufe des World Wide Web begonnen: Autonomes Fahren, vernetzte Haushaltsgeräte und digita- les Lernen werden in naher Zukunft zum Alltag gehören. In der Akademietagung geht es um Sicherheit, Gerechtigkeit und digitale Bildung. Eine weitere Herausfor- derung besteht in den Gefahren des Inter- nets. Leitung: Uwe Jakubczyk 05671 881-100 www.akademie-hofgeismar.de Religion, Bildung, Gesellschaft 5.3 | online Braucht Religion Bildung? Was ist zeitge- mäße Bildung? Welche Rolle spielt religi- öse Bildung für die Wertorientierung in der Gesellschaft in Zeiten schwindender konfessioneller Bindungen? Im Rahmen der Tagung werden Antworten auf die zentralen Fragen gesucht. 05671 881-122 www.akademie-hofgeismar.de Die Butter vom Brot 19-20.3 | Hofgeismar Im Netz, in der Schule, bei Demonstra- tionen werden zunehmend Argumente, Parolen und Verschwörungserzählungen verbreitet, die rechtspopulistisch, anti- semitisch und rassistisch sind. Wie kann man diesen Parolen im (digitalen) Alltag begegnen, ihnen widersprechen und Posi- tion beziehen? Auf der Akademie- Veran- staltung wollen wir dazu Strategien und Argumente erproben. 05671 881-122 www.akademie-hofgeismar.de Digitale Tools 22.3. | online Eine kurzweilige Einführung in das hilf- reiche Tool Padlet, das auch im Religi- onsunterricht eingesetzt werden kann: digitale Pinnwände erstellen, Filme, Links, Dokumente, Kommentare präsentieren und bearbeiten. Für die Teilnahme an der Veranstaltung benötigen Sie einen inter- netfähigen PC mit Kamera und Mikrofon. Veranstalter: RPI Fritzlar 0561 9307-137 www.rpi-ekkw-ekhn.de k c o t S e b o d A : o t o F 4.3. Hofgeismar › Seminare / Tagungen: Das „Internet der Dinge” bestimmt zunehmend unseren Alltag – die Akademietagung untersucht die Möglichkeiten und Gefahren des Word Wide Web 28 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021 Erklärfilme selbst gemacht 24.3. | online Digitale Tools sind eine Bereicherung für den Religionsunterricht. Lernen Sie mit Hilfe von PowerPoint, Erklärfilme mit Bild, Ton und einfachen Animationen zu erstel- len. Für die Teilnahme an diesem Online- Seminar ist es erforderlich, dass Sie Power- Point auf Ihrem Endgerät installiert haben. 0561 9307-137 www.rpi-ekkw-ekhn.de Best of Beuys 23.–25.4. | Hofgeismar Wenige Tage vor dem 100. Geburtstag von Joseph Beuys widmet sich die Ta- gung Fragen, die Beuys aufgeworfen hat: Was ist Kunst? Was ist Kapital? Was ist Demokratie? Was rettet diese Welt? Die Reflexion seines künstlerischen Ansatzes fokussiert vor allem die Herausforderung, wie wir die Zukunft gestalten wollen. Die Akademietagung nimmt sich Zeit für Fil- me mit Beuys und eine Exkursion zu den „7000 Eichen“. 05671 881-122 www.akademie-hofgeismar.de Energie? Natürlich! 28. – 30.5. | Hofgeismar Woher kommt eigentlich unsere Ener- gie, und warum ist sie so wertvoll, dass wir sie nicht verschwenden sollten? Was hat Energie mit Klima zu tun? Wie funk- tionieren Solar- und Windenergie? Was sagen Schüler von Fridays for Future und Wissenschaftler von Scientists for Future? Die Kinderakademie in der Evangelischen Tagungsstätte Hofgeismar bietet Fragen, Antworten, Spiele, Experimente und viele neue Ideen rund um Energie! 05671 881-122 www.akademie-hofgeismar.de FORTBILDUNG Gewaltfreie Kommunikation 8.-10.12. | Germete Freude, Angst, Hass, Wut, Glück, Ausge- glichenheit – wie kann man aufrichtig zu sich selbst und anderen sein, ohne Gefühle

SERVICE Kirche im Radio HESSISCHER RUNDFUNK Morgenfeier hr2-kultur: So 7.30 Uhr 28.03. Helmut Wöllenstein, Marburg 05.04. Tina Oehm-Ludwig, Fulda 25.04. Anke Haendler-Kläsener Sonntagsgedanken hr1: So 7.45 Uhr 02.04. Kathrin Mantey, Spangenberg 25.04. Hermann Trusheim, Hanau Zuspruch hr1: Mo – Fr. 5.20 Uhr + 19.15 Uhr, Sa ca. 7.10 Uhr 15. – 19.3. Norbert Mecke, Melsungen 26. – 30.4. Tanja Griesel, Kassel Zuspruch hr2–kultur: Mo–Sa 6.30 Uhr 15. – 20.3. Carmen Jelinek, Kaufungen 26.4. – 1.5. Michael Becker, Kassel Übrigens hr4: Mo + Mi – Fr 17.45 Uhr, So 7.45 Uhr 15. – 21.3. Burkhard von Dörnberg, Bruchköbel hr4–Übrigens aktuell: Di 17.45 Uhr 2.3. I 16.3. I 30.3. I13.4. Michael Becker, Kassel Moment mal hr3: Di+Do 18.15 Uhr, So 7.15 Uhr Himmel & Erde hr-Info: So 6.05 und 10.30 Uhr Lebensfragen – Glaubensfragen HIT RADIO FFH So, 6 bis 9 Uhr „Kreuz und Quer“ – Das Magazin der Kirchen. Darin: 6.25 Uhr, 7.25 Uhr, 8.25 Uhr kirchliche Nachrichten aus Deutschland, Hessen und Ihrer Region und „Bibel aktuell“ zwischen 8 und 9 Uhr; Mi, 21.54 Uhr: „Zwischen töne“ RADIO BOB So, 8 bis 10 Uhr: „Bobs Kirchenzeit“ – Beiträge zu Glaube, Kirche, Lebensfragen RADIO HARMONY So, 6 bis 9 Uhr: „Himmlisch“, das Kirchen- magazin; Mi, 19.30 Uhr: „Quergehört“ Neu erschienen Ilona und Rainer Wälde: Das Gut(e) braucht Zeit. Wälde Media, Frielendorf, 2020 12 Euro Christian Lehnert: Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten. Suhrkamp Verlag 2020, 22 Euro Träume wahr werden lassen Spaziergang zu himmlischen Wesen Ein Geschichte aus Nordhessen, genauer gesagt aus der Schwalm: Ilona und Rainer Wälde finden in Frielendorf-Großropper- hausen ihren Sehnsuchtsort – einen alten Gutshof inmitten einer wunderbaren Land- schaft mit einem Rosengarten. Über zehn Jahre verfolgt das Ehepaar ein großes Ziel: Sie träumen von einem historischen Ge- bäude, einem Landgut mit Tradition, in dem Menschen zur Ruhe finden und neu auftanken können. Das Buch beschreibt anschaulich und mit vielen Bildern, wie das Unternehmer- paar aus Südhessen nach Umwegen, Kri- sen und Rückschlägen diesen denkmal- geschützten Ort im Herzen Deutschlands findet – und was die beiden aus dem An- wesen machen – nämlich die Gutshof Aka- demie, in der man sich ausbilden lassen kann, zum Beispiel zur Personality Stylis- tin, zur Führungskraft, zum Knigge-Trainer oder zum Waldbademeister. Doch nicht nur das. Die Gutshof Akademie will auch Kloster auf Zeit sein, Urlaubsort mit spi- rituellem Angebot und Ruheoase für Ge- stresste, ein Zentrum für Sinnsucher und Sinnstifter. Spannend zu lesen ist, wie diese ins- pirierende Institution mit kirchlichen und dörflichen Angeboten vor Ort verknüpft wird und wie die Betreiber ein produktives Beziehungsnetzwerk herstellen. Der Guts- hof wird so zum Sinnbild für Menschen, zum Symbol für die Sehnsucht nach Hei- mat und Geborgenheit. Eine Ermutigung für alle, die sich für das eigene Leben mehr Tiefe und Weite wünschen und ebenfalls ihren Träumen folgen wollen. Sind sie kitschige Putten, theologische Deko, Gesten Gottes, Spinnerei? Oder „nehmen sie vorweg, wer ich sein könnte oder sein werde“? So breit der Bildungs- horizont, so weit gefächert und bilderreich seine Begriffe für jene doch unbegreifli- chen Wesen, so spannend das Erzählen von Menschen und himmlischen Boten, Philosophen und Dichtern, Bibel, Natur, Vergangenheit und Gegenwart: Der Leip- ziger Theologe und Lyriker Christian Leh- nert spaziert scheinbar ziellos „Ins Innere hinaus“. So heißt sein neuestes Buch, ein Rei- gen von Prosa-Miniaturen – oder ein un- gebundener Essay – aus fein geformten Sprach- und Geistessplittern „von den En- geln und Mächten“. Unberührt wird das niemanden lassen, sei es, weil der Leser seinerseits mehr sucht als die „Wohlstands- frömmigkeit“ der Kirchen; sei es, weil Leh- nert stets Selbsterlebtes aus der Zeit als wehrdienstverweigernder Bausoldat mit einflicht; weil er nicht belehrt, sondern fragt und sondiert. Und sich in immer neu- en Kreisen dem Unsagbaren nähert. „En- gel sind Kurzschlüsse, blitzartig gezündet zwischen unvereinbaren Polen, als Wun- der, Unvorhersehbares, als Verwandlungs- kräfte. Sie durchschlagen schockartig die gewohnten Verläufe.“ Christian Lehnert, Jahrgang 1969, von dem bislang sieben Gedichtbände erschie- nen sind, gilt als einer der bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart – er wurde mit dem Höltypreis, dem höchst- dotierten Lyrikpreis im deutschsprachigen Raum, ausgezeichnet. Lothar Simmank Anne-Kathrin Stöber 30 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021

Die Fotos auf dieser Seite stammen aus dem Buch „Verlassene Kirchen – Kultstätten im Verfall” von Francis Meslet, Jonglez-Verlag, 35 Euro Im Angesicht leerer Kirchen V iele Journalisten können dem Bild nicht widerstehen, wenn sie über die Kirchen berichten: leere Bän- ke. Damit illustrieren sie gerne die sinken- den Mitgliederzahlen, gerade so, als ma- che sich kirchliches Leben ausschließlich am Sonntagsgottesdienst fest. Und dann brach plötzlich eine Zeit an, in der die Kirchen wirklich leer waren, leer bleiben mussten. Das hat vieles ausgelöst: Auf der einen Seite eine große Kreativität, um mit Video- und Onlineformaten, per Telefon und Post oder Gemeindebrief mit der Gemeinde in Kontakt zu bleiben. Zugleich wurde vielen Menschen auch klar, was ihnen fehlte, was sie vermissten: den Gottesdienst, be- sonders wenn er am Heiligen Abend nicht wie gewohnt gefeiert werden konnte. Wie so vieles unter der Pandemie ließ sich all das leichter ertragen mit dem Gedanken, dass es wieder anders werden wird. In einem traurig-schönen Bildband hat der Franzose Francis Meslet Kirchen foto- grafiert, für die es diese Hoffnung nicht mehr gibt; sie sind dem Verfall anheim ge- geben. Die meisten hat er in Frankreich und Italien entdeckt, zwei in Deutschland. Wo genau diese Kirchen sind, verrät das Buch nicht, auch um sie vor Vanda- lismus zu schützen. Statt einer Beschrei- bung werden die Fotos durch literarische Texte ergänzt – ein Experiment, das nicht durchweg gelingt. Die Fotos selbst wirken wie eine Elegie, können aber zugleich als Aufforderung verstanden werden, sich für den Erhalt der Kirchen einzusetzen, so wie das Kirchengemeinden landauf, landab engagiert tun. Die coronabedingt leeren Kirchen ha- ben das Nachdenken darüber, wo der Kern der Kirche ist, neu entzündet. Der katholi- sche Theologe und Soziologe Tomáš Halík (Prag) etwa erinnerte in einem Aufsatz in „Theologie und Kirche“ an das Mittel- alter, als die Kirche häufig die Strafe des Interdikts über Regionen verhängte: Die Kirchen wurden geschlossen, es gab keine Gottesdienste, kein Läuten, keine Sakra- mente, keine Beerdigungen. Das habe, so Halík, dazu geführt, dass die Menschen ei- ne persönliche Beziehung zu Gott gesucht und die Mystik entdeckt hätten – für ihn sogar eine Wurzel der Reformation. Meslets Fotos machen einmal mehr deutlich, welchen Schatz wir in unseren Kirchen haben. Doch klar ist auch: Die „Gotteshäuser“ sind nicht der Ort, wo Gott wohnt. Der Theologieprofessor Dr. Rupert Scheule sagte es in einem Interview so: „Wo Gott in der Pandemie war, ist mir ganz klar: bei überforderten Politikern, einsamen älteren Menschen und auf den überfüllten Covid-19-Stationen von Berga- mo und New York.“ ● Olaf Dellit 32 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021