Die alte Buche als Kraftquelle RATGEBER Du wirst mehr in den Wäl- dern finden als in den Büchern. Die Bäume (…) werden dich Dinge lehren, die dir kein Mensch sagen wird.“ Bernhard von Clairvaux Ein Ratsuchender in der Internetseel- sorge: Per E-Mail wendet er sich an die Telefonseelsorge, seinem Pseud- onym kann ich entnehmen, dass er 1990 geboren, also 32 Jahre alt ist. Im Betreff steht: „Unendliche Trauer“. Wie immer am Beginn eines Mailseel- sorgeprozesses bin ich gespannt, wer mir begegnen wird, ich lese und lasse mich be- rühren von dem geschriebenen Wort. Der Schreiber drückt sich gut aus und schreibt zwei ganze Seiten, anscheinend hat er über das Schreiben einen Weg gefunden, Gedanken und Empfindungen nach außen zu bringen. Seine Freundin, so schreibt er, habe sich vor über einem Jahr das Leben genommen, für ihn gänzlich ohne Vorwar- nung. Seither ist nichts mehr, wie es war, alles hat sich verändert, die Frage nach dem „Warum?“ treibt ihn um und noch immer ist da eine bodenlose Traurigkeit. Seine Freunde sagen ihm, dass er end- lich wieder zurückfinden müsse ins Leben, aber er weiß nicht wie. Bin ich normal? Hört die Trauer jemals auf? Wie kann ich weiterleben?, fragt er. Manchmal möchte er seiner Freundin einfach „nachsterben“, schreibt er in einer Mail. Die ersten Mail- wechsel beschäftigen sich mit seiner Trau- rigkeit, mit der Würdigung seines großen Schmerzes. Es ist wichtig für ihn, bestätigt zu be- kommen, dass seine noch immer starken Gefühle normal und eine ganz natürliche Reaktion auf seinen Verlust sind. Dass es keine regelhafte Zeitspanne gibt, bis wann man die Trauer überwunden haben muss. Sich untröstlich zu fühlen ist „normal“, es ist „normal“, zu weinen, sich zurückzuzie- Ein junger Mann wendet sich nach dem Suizid seiner Freundin per E-Mail an die Telefonseelsorge, es entwi- ckelt sich ein Briefwechsel über Trauer und verdrängte Gefühle. Ein wenig Kraft findet der Trauernde in der Natur. hen und sich müde zu fühlen. In dem etwa zwei Monate dauernden Mailseelsorgekon- takt passiert viel in dem Ratsuchenden. Es ist ein intensiver, lebendiger Prozess, bei dem ich ihn unterstützend begleiten darf. Immer wieder nehmen die Erinnerun- gen an seine Freundin und die gemeinsa- me Zeit viel Raum ein. Ich ermutige ihn, sich zu erinnern, an Schönes und Schweres, an Erfülltes und Unerfülltes und nach dem zu suchen, was von der gemeinsamen Zeit bleibt. Immer wieder taucht in ihm auch Wut auf seine Freundin auf, darauf dass sie sich getötet und ihn allein zurückgelas- sen hat. In unserem Mailkontakt traut er sich zum ersten Mal, dieses Gefühl zu äu- ßern. Er versteht, dass auch das „normal“ ist und dazu gehört, gerade wenn es um Trauer nach Suizid geht. »Es ist normal, sich untröstlich zu fühlen.« In einer der letzten Mails frage ich nach seinen Kraftquellen, nach dem, was ihm guttut, wo er sich wohlfühlt, auch wenn die Gefühle mal wieder sehr stark sind. Was vielleicht früher schon mal in schweren Zeiten hilfreich für ihn war. Der Ratsuchende erinnert sich an gute Erfahrungen, die er nach einer früheren Trennung in der Natur gemacht hat. Er beschreibt wortreich, wie wohltuend und beruhigend es damals für ihn war, im Wald zu sein, die Bäume zu sehen, wie klärend diese Ruhe für ihn war. Am Ende des Mailkontaktes schreibt er davon, wie er sich ein Leben ohne sei- t a v i r p : o t o F Salome Möhrer-Nolte leitet das Team der TelefonSeelsorge Nordhessen, das anonym und kostenlos rund um die Uhr erreichbar ist unter Tel. 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222 www.telefonseelsorge-nordhessen.de Die Telefonseelsorge Nordhessen ist auf Spenden angewiesen: IBAN: DE 62 5206 0410 0000 2140 35 ne Freundin vorstellt. Er hofft, dass es ihm gelingt, eine innere Verbindung zu ihr in seinem Herzen zu behalten. Auf seinem Lieblingswaldweg hat er sich einen Baum der Erinnerung ausgesucht. Eine alte Bu- che: Ein Ort der Trauer, der Erinnerung und der Kraft für ihn. Für viele Menschen hat der Wald eine tröstende, klärende und wohltuende Wir- kung. Schön, dass der Ratsuchende sich an diese Möglichkeit selbst erinnert hat, denn ein solcher Tipp von außen kommt oft nicht gut an, auch wenn er gut gemeint ist. Die tiefe Erkenntnis des Bernhard von Clairvaux ist dennoch mein Schlusswort: „Die Bäume werden dich Dinge lehren, die dir kein Mensch sagen wird.“ Deshalb: Lassen Sie uns bewusster in den Wald gehen und ihn als Ort der Kraft nutzen. ● Die personenbezogenen Daten wurden zum Schutz des Ratsuchenden verändert, die Te- lefonseelsorge sichert Verschwiegenheit zu. blick in die kirche | MAGAZIN | April 2023 21