wissermaßen der Gegenentwurf zum Gleichgültigkeits-Essay? Schami: Es ist die Hoffnung, für die ich auch in meinem Essay plädiere. Die Sen- sibilität gegenüber Fremden und die Be- reitschaft, ihnen zu Hilfe zu eilen, wenn sie es brauchen. Alle Namen, die in dieser Geschichte vorkommen, sind die arabi- schen Schreibweisen der Personen, die in der Weihnachtsgeschichte genannt wer- den. Die Geschichte dient auch ein wenig als Antwort auf die Frage, was gewesen wäre, wenn Jesus nicht in Betlehem, son- dern in Deutschland geboren worden wä- re. Der Humor der Geschichte lässt den Inhalt besser verinnerlichen. Humor ist für mich der beste Schmuggler von Gedanken. ? Mariam hat in der Geschichte nur ei- nen Verwandten an ihrer Seite, alles andere sind Unbekannte. Da werden Fremde zur Familie. Ist das Ihre Vision für eine Gesellschaft? Schami: Ja, genau, Sie haben mich durch- schaut! Weil wir alle einer Familie ange- hören, und die heißt Menschheit, aber für rassistische Hirne ist es zu schwer, diese einfache Tatsache zu verstehen. »Humor ist für mich der beste Schmuggler von Gedanken.« ? Können Geschichten Neugierde wecken? Denn Sie schreiben: „Neu- gierde auf die Geschehnisse der Welt ist eine Feindin der Gleichgültigkeit.“ Schami: Wenn Geschichten gut sind, so wecken Sie spannend die Neugier, sie er- öffnen den Leserinnen und Lesern neue Welten und Möglichkeiten zu handeln, die sie befähigen, aktiv zu werden, aber die Initiative kann nicht aus dem Gelese- nen kommen, sondern aus uns selbst. Es gibt auch Gelehrte, die ihr ganzes Leben gleichgültig bleiben. ? Was kann uns die Weihnachtsge- schichte heute sagen? Schami: Zum einen, dass sich die Weltge- meinschaft um die Versöhnung der zwei Völker bemühen muss, die in Palästina und Israel leben, denn die Gleichgültig- keit der Welt wird diese Länder bald in eine große Katastrophe führen, bei der es nur Verlierer geben kann. Jesus einmaliger Satz „Liebet eure Feinde“ (Matthäus 5,39– 48) ist die schwere Lösung, und so sehr sie Anstrengung und Opferbereitschaft abverlangt, es ist nichts im Vergleich zu Zerstörung und Menschenverlusten durch Kriege. Die Weihnachtgeschichte lehrt zum anderen aber auch, bescheiden zu bleiben, sie lehrt Achtung vor hilfsbedürftigen Fremden, denn auch deren Kind kann ein Gottessohn (bei Christen), ein Prophet (bei Anhängern der meisten anderen Religio- nen) oder ein großer friedlicher Revolutio- när, Philosoph und engagierter Verteidiger der Armen (bei Atheisten) sein, der nicht einmal am Kreuz Hass gegen seine Feinde predigt. ? Wenn Sie drei Weihnachtswünsche frei hätten, welche wären das? Schami: Der erste Wunsch: dass kein Kind mehr auf der ganzen Welt an Hunger stirbt. Der zweite: dass ein Land mutig genug ist, die Waffen abzuschaffen, dann werden dem vielleicht viele folgen, und der dritte Wunsch: dass mich der Todesengel meinen nächsten großen Roman zu Ende schreiben lässt und ich ihn noch vielen Menschen mündlich erzählen kann. THEMA Kleines Wunder Im Mittelpunkt dieser kurzen Weih- nachtsgeschichte steht Mariam aus dem Westjordanland, die in Heidelberg (wie Rafik Schami auch) studiert hat. Der jähr- liche Besuch dort fällt aus, als sie schwan- ger wird und im kalten Deutschland bleibt. „Raureif glitzerte auf der Straße, als wollte er die Sterne des Himmels spiegeln“, so beschreibt Schami die Nacht der Geburt, die, so viel darf verraten werden, ganz und gar ungewöhnlich verläuft. Mit wenigen Worten und den Illustrationen von Mehr- dad Zaeri wird die Geschichte erzählt, die tatsächlich – wie der Klap- pentext verheißt – von „Liebe, Vertrauen und e i n b i s s c h e n Wunder“ han- delt. Die Geburt, edition chris- mon, 12 Euro Die Gleichgültigen Wie Sie sehen, bin ich mit meinen Wünschen sehr bescheiden. ● Fragen: Olaf Dellit ZUR PERSON Rafik Schami (75) wurde in Damas- kus (Syrien) in eine katholische Familie geboren. Sein Vater wollte, dass er Mönch wurde, doch Schami schlug einen anderen Weg ein und studierte Chemie, Mathe- matik und Physik – und schrieb erste literarische Werke. Um dem Militärdienst und der Zensur zu entgehen, wanderte er 1971 nach Deutschland aus, wo er in Heidelberg sein Chemiestudium mit der Promotion abschloss. Ab 1977 veröffent- lichte er Texte auf Deutsch, das er neu hatte lernen müssen. Bis heute hat Rafik Schami 42 Bücher geschrieben, neben Ro- manen auch Essays. Seine Werke wurden in 34 Sprachen übersetzt. Rafik Schami setzt sich für Frieden und Versöhnung ein und fördert Literatur aus arabischen Ländern. Er hat zahlreiche Preise erhalten, jüngst die Carl-Zuckmayer-Medaille. 2010 hatte er die Brüder-Grimm-Poetikprofessur der Uni Kassel inne. www.rafik-schami.de Von ihnen wird wenig gesprochen, dabei sind sie – wenn man Rafik Schamis beste- chender Analyse folgt – eine sehr einfluss- reiche Gruppe: die Gleichgültigen. Durch ihre Passivität ermöglichen sie radikale Umbrüche. Schami: „Die Niederlage ihres Fußballvereins bewegt sie mehr als der Völkermord an Millionen.“ Ausgehend von seiner Reaktion auf eine Buchkritik schlägt Schami im 90-seitigen Essay einen Bogen vom rassistisch geprägten Begriff „orienta- lisch“ über Comedians als Stichwortgeber für Rassisten bis hin zu Geflüchteten. Doch der Autor bleibt nicht bei der betrüblichen Analyse stehen, er fordert zum Kampf ge- gen die Gleich- gültigkeit auf: „Niemand, der denken kann, ist zu alt oder zu jung zum Han- deln.“ Gegen die Gleichgültig- keit, Schiler & Mücke, 10 Euro blick in die kirche | MAGAZIN | Dezember 2021 9