Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 24 Jul 2020

Kassel (medio). Mit sechs Thesen bietet Bischöfin Dr. Beate Hofmann theologisch Interessierten und suchenden Christinnen und Christen eine Gelegenheit zum Nachdenken über die Corona-Erfahrungen und die durch die Pandemie aufscheinenden Fragen an Theologie und Kirche. «Das Papier ist eine Momentaufnahme aus dem Sommer 2020 ohne Anspruch auf Vollständigkeit und versteht sich als Einladung zur Reflexion und zum Gespräch über Erfahrungen, die zentrale Fragen der christlichen Rede von Gott und vom Menschen berühren», schreibt die Bischöfin in ihren Vorbemerkungen.

Lesen Sie hier die Thesen im Wortlaut:

«Wir werden gebeutelt, gezeichnet, verändert» – theologische Perspektiven auf die Corona-Erfahrung

Vorbemerkung: Dieses Papier soll theologisch Interessierten und suchenden Christinnen und Christen eine Gelegenheit zum Nachdenken über die Corona-Erfahrungen bieten und die durch die Pandemie aufscheinenden Fragen an Theologie und Kirche reflektieren. Es ist Ausdruck meiner eigenen Suchbewegung als Bischöfin in der theologischen Auseinandersetzung mit der Pandemie. Im ersten Teil werden theologische Fragen und Deutungen aufgegriffen (1-3), im zweiten Teil geht es um die spirituelle Bewältigung der Pandemie und die Konsequenzen für Kirche und Gesellschaft (4-6). Das Papier ist eine Momentaufnahme aus dem Sommer 2020 ohne Anspruch auf Vollständigkeit und versteht sich als Einladung zur Reflexion und zum Gespräch über Erfahrungen, die zentrale Fragen der christlichen Rede von Gott und vom Menschen berühren. Ich danke den Mitgliedern der theologischen Kammer der EKKW, die mein Nachdenken konstruktiv und kritisch begleitet und angeregt haben.

1.    Wie lässt sich die Entstehung der Corona-Pandemie theologisch bewerten? Ist Corona z.B. eine Strafe Gottes oder Ergebnis politischer Verschwörung?

Die Corona-Pandemie ist keine Strafe Gottes. Sie ist eine Folge menschlicher Verwundbarkeit und globaler Mobilität. In ihren sehr unterschiedlichen Auswirkungen auf Menschen weltweit ist sie auch Folge von Ungerechtigkeit auf dem Hintergrund von grenzenlosem Profitstreben und mangelnder politischer Steuerung. Das hat zu maroden Gesundheitssystemen und ungleichem Zugang zu guter medizinischer Versorgung, zu Bildung, zu hygienischen Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten geführt.

Erläuterung:
Die Corona-Pandemie ist eine «Katastrophe mit Ansage», in der natürliche und kulturelle Ursachen ineinander verwoben sind, so dass ihre Wirkung durch menschliches Handeln verstärkt wurde. Schon lange gab es Warnungen, dass es zu einer Pandemie kommen könnte. Auf Grund unserer globalisierten Wirtschaft und Touristik lässt sich die Verbreitung solcher Krankheiten nur schwer lokal begrenzen. Globale Anfälligkeit für Krankheiten und die Bedrohung von Leben, Gesundheit und wirtschaftlicher Entwicklung weltweit sind die Schattenseiten hoher Mobilität und Vernetzung. Sie gehören zu unserem Leben im 21. Jahrhundert dazu.

Corona führt uns eindringlich vor Augen, dass nicht alles auf dieser Welt durch Technik und Naturwissenschaft in den Griff zu bekommen ist. Unser Leben bleibt zerbrechlich und es ist begrenzt. Das gehört zu den existentiellen Erfahrungen allen menschlichen Lebens, egal, ob zu biblischen oder heutigen Zeiten (vgl. z.B. Ps 103,15). Wir leben in der Spannung von Freiheit und radikalen Grenzen, von Selbstbestimmung und weltweiter Abhängigkeit, von vielen Entwicklungsmöglichkeiten und bleibender Zufälligkeit der Ereignisse. Das ist der Rahmen unseres Lebens, in dem Gott uns Freiheit und Entfaltungspotentiale schenkt. In diesem Rahmen können und sollen wir unser Leben und unsere Welt mitgestalten und Verantwortung wahrnehmen. Eine fatalistische Haltung («Man kann ja doch nichts tun», «Es ist alles Gottes Wille») übersieht diese Verantwortung, während der Machbarkeitswahn des «homo faber» - des Menschen als Macher und Hersteller - die eigenen Grenzen übersieht.

Viele Menschen erleben die Pandemie als Anfechtung ihres Glaubens und als Infragestellung ihres bisherigen Weltbildes. In dieser Verunsicherung werden sie empfänglich für scheinbar plausible und vereinfache Erklärungen. Doch die Behauptung, das Corona-Virus sei gezielt und absichtlich erzeugt und verbreitet worden, entbehrt jeder faktenbasierten Grundlage. Solche «Verschwörungstheorien» reagieren auf die Erfahrung von Kontrollverlust, indem sie einfache Erklärungen und «Schuldige» suchen. Dabei werden oft rassistische und antisemitische Denkfiguren genutzt. So war es schon bei den Pestepidemien des Mittelalters, bei denen zu Unrecht z.B. «die Juden» als «Schuldige» identifiziert wurden.

Wer aus dem Vertrauen auf Gott und seine Gnade lebt, kann auch Komplexität und Ambivalenz aushalten, braucht weder falsche Erklärungen noch vermeintlich Schuldige, um die Pandemie zu verkraften.
Wer die Corona-Pandemie als Strafe Gottes versteht, muss erklären, warum gerade die, die in Armut leben, die krank oder hochaltrig sind oder sich in medizinischen Berufen um Kranke kümmern, von der Krise am stärksten betroffen sind. Warum sollte Gott gerade diese Menschen bestrafen? Schon dieser Gedanke zeigt, dass eine einfache Zuordnung von Krise und Strafe nicht möglich ist.

Zum Weiterdenken:
Welche Erklärung für die Entstehung der Corona-Pandemie halten Sie für plausibel? Inwiefern beeinflusst das Ihre Vorstellung von Gott und vom Menschsein?

2.    Ist die Deutung von «katastrophalen Ereignissen» als Gericht oder gar als Strafe Gottes theologisch angemessen und hilfreich?

Die Deutung von katastrophalen Ereignissen als Strafe Gottes widerspricht der zentralen christlichen Botschaft, dass Gott sich in Jesus Christus als liebender, nicht als strafender Gott gezeigt hat.

Erläuterung:
Die Deutung von Katastrophen als Strafe Gottes und göttliche Reaktion auf menschliches Fehlverhalten findet sich in der Bibel z.B. in der Sintflutgeschichte (1. Mose 6) oder bei den Plagen vor dem Auszug Israels (2. Mose 7-11). Diese Deutungen sind der Versuch, eine Ursache für unerklärliche Ereignisse zu finden und die Erfahrungen von Not, Krankheit und Tod mit dem Bild eines liebenden und gerechten Gottes, der für die Schwachen eintritt, zusammenzubringen. Sie dienen auch dazu, menschliche Schuldzuweisungen, Rachephantasien und Strafaktionen einzugrenzen.

Dank der Naturwissenschaft wissen wir heute mehr darüber, wie es zu Erdbeben, Vulkanausbrüchen oder auch einer Pandemie kommt. Manche Katastrophen wie die Folgen des Klimawandels sind menschengemacht. Andere, wie Erdbeben auf Grund tektonischer Spannungen, sind Naturereignisse, die ohne menschliches Zutun entstehen. Wir leben aber in Zeiten, wo sich die Grenzen zwischen dem einen und dem anderen oft schwer ziehen lassen: Dass Unwetter zu starken Überschwemmungen führen, dass es viel Starkregen und Dürre gibt, hat auch mit der Abholzung des Regenwaldes, mit dem Abschmelzen der Polkappen, mit der Versiegelung von Grünflächen, der Begradigung von Flüssen und den daraus folgenden Verschiebungen des Klimas zu tun, wie die Corona-Pandemie eben auch mit unserer gestiegenen Mobilität und unserer globalisierten Wirtschaft zusammenhängt. Natur ist immer schon durch menschliches Handeln beeinflusst, denn wir leben im «Anthropozän».

Unser schuldhaftes Handeln hat Folgen für unser Leben; doch diese Auswirkungen sind Folge menschlichen Handelns und nicht von Gott verordnete Strafe. «Strafe» ist auch deswegen für eine christliche Deutung von Erfahrungen eine fragwürdige Kategorie, weil Gott sich in der Bibel als der liebende Gott zu erkennen gibt, der er immer war und der sich mitleidend auf die Seite der Schwachen gestellt hat. Gott ringt um die Beziehung zu den Menschen und nimmt in Jesus Christus selbst die Konsequenzen der Sünde und Gottesferne der Menschen auf sich.

Das Gericht Gottes, von dem auch Jesus spricht, begegnet uns nicht als Verurteilung oder gar Verdammnis, sondern es deckt die Wahrheit über unser Handeln auf und legt - unter dem Zuspruch der Vergebung - Versäumnisse und Schuld offen. Die Corona-Pandemie hat tatsächlich viele Versäumnisse, Brüche und Defizite in unserer Welt freigelegt und führt uns an die Grundfragen unserer Existenz sowohl als Gesellschaft wie auch als Einzelne. In diesem Sinne kann sie im Licht des christlichen Glaubens als Gericht über ungerechte Lebensbedingungen gedeutet werden und als Aufruf, das Leben anders zu gestalten.
Die Existenz von Übel und Bösem verweist uns darauf, dass wir noch nicht erlöst sind, sondern dass wir noch auf die Erlösung hoffen. So schreibt Paulus: «Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden.» (Röm 8,19) Wenn Hoffnung neben Angst tritt, nimmt sie der Angst die Macht und schafft Raum dafür, klug, überlegt und in Ausrichtung auf die Zukunft und das Wohl unserer Nächsten zu handeln.

Denn auch in der Corona-Krise sind wir dem Virus nicht ohnmächtig ausgeliefert, sondern haben Möglichkeiten, mit der Bedrohung verantwortlich umzugehen, z.B. dadurch, dass wir Abstand halten, für uns wichtige soziale Kontakte begrenzen und auf Begegnungen verzichten, um Leben zu retten. Und gleichzeitig können wir Sorgenetze knüpfen und für den Schutz, aber auch die Teilhabe der besonders Gefährdeten eintreten. Durch Corona sind wir gefragt, ob wir Vertrauen haben und aus diesem Vertrauen heraus verantwortungsvoll leben und getrost auf den Tod zugehen.

Zum Weiterdenken:
Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen Katastrophen oder menschlichem Leid und dem Handeln Gottes?

3.    Warum lässt Gott solche Katastrophen und solches Leid zu? Kann er sie nicht verhindern oder will er das nicht?

Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Sie bleibt eine Herausforderung für unseren Glauben und führt uns die Grenzen unserer Gotteserkenntnis vor Augen. Theologische Antwortversuche führen ins Gebet oder richten den Blick auf das Kreuz Christi als Ausdruck des mitleidenden Gottes.

Erläuterung:
Leid und Katastrophenerfahrungen stellen das Bild von einem liebevollen, zugewandten Gott sehr grundsätzlich in Frage. In der christlichen Theologie gibt es verschiedene Versuche, damit umzugehen. Martin Luther und andere Theolog*innen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Gott verschiedene Gesichter oder Seiten hat, nicht nur die liebevolle; es gibt auch anderen, unverständliche Seiten, die Fragen und Klagen wecken.

Die biblischen Psalmen legen eine Spur, wie wir mit diesen Fragen leben können. Die Psalmen deuten Elend und Unglück nicht als Laune oder Unachtsamkeit Gottes. Sie gehören zu unserer menschlichen Existenz dazu. Manchmal sind sie Folge menschlicher Freiheit oder sündiger, d.h. entfremdeter Strukturen, in denen wir leben. Und manchmal sind sie – wie in der Hiobsgeschichte – für uns nicht erklärbar, weil wir die Welt nicht mit Gottes Augen sehen können. Darum hilft nur, so wie die Psalmbeter, sich an den gnädigen und barmherzigen Gott zu klammern und Gott und uns selbst an seine Zusage von Heil und Gnade zu erinnern. So haben es die Psalmbeter gemacht oder Glaubensvorbilder wie Dietrich Bonhoeffer. Sie erinnern sich und Gott im Elend an Gottes Liebe und das stärkt sie im Vertrauen auf und im Festhalten an Gott.

Eine andere Spur in der Bewältigung der Frage nach Gott im Leiden führt zu Kreuz und Auferstehung Christi. Im Leiden und Sterben von Jesus Christus am Kreuz zeigt Gott: Jesu Leiden ist Solidarität mit allen, die Unrecht erleben. Die Auferweckung des Gekreuzigten ist ein Nein Gottes zu einem Handeln, das Menschen zu Opfern macht, das Leben aus Machterhalt und Profitgier heraus zerstört oder gefährdet. Wenn uns Katastrophen herausfordern, braucht es die ehrliche und demütige Wahrnehmung menschlicher Grenzen und eine Solidarität, die sich in entsprechendem diakonischen und politischen Engagement wie in der Fürbitte zeigt. In der Passion Christi wird auch deutlich, dass Gott seine Macht gerade nicht durch die Wahrnehmung von Gewalt ausübt. Seine Kraft ist «in den Schwachen mächtig ist» (2.Kor 12,9).

Zum Weiterdenken:
Welche Bedeutung hat für Sie die Rede vom allmächtigen Gott und was bedeutet das für Ihren Glauben und Ihr Leben?

4.    Welche Rolle spielt der christliche Glaube bei der Bewältigung von Krisen wie der Corona-Pandemie?

Für mich ist der christliche Glaube wie ein Geländer, das in der Pandemie-Erfahrung nicht vor Stolpern und Krisen bewahrt, aber hindurch hilft. Mein Glaube hilft mir, die Angst vor der Pandemie und ihren Folgen auszuhalten und bewahrt mich vor lähmendem Fatalismus und Resignation. Er ermutigt mich zu verantwortlichem Handeln.

Erläuterung:
Wie gehe ich als Christin mit der Pandemie um? Wie lebe ich unter Pandemie-Bedingungen aus dem christlichen Glauben heraus?

Manche haben auf diese Frage fatalistisch reagiert: «Es gibt keinen Wirkstoff, jetzt hilft nur noch beten!» Andere haben das Virus ignoriert oder sich vielleicht auch durch ihren Glauben für unverletzlich gehalten. Manche haben große Angst und sind in ihrem Lebensgefühl zutiefst verunsichert. Sie ziehen sich zurück und hoffen, so zu überleben. Und viele haben versucht, durch vernünftiges, achtsames und solidarisches Verhalten Infektionsketten zu unterbrechen und Ansteckungsrisiken zu minimieren. Neben manchem Egoismus und gelegentlicher Hysterie haben wir vor allem große Solidarität und Achtsamkeit erlebt. Das hat, verbunden mit einem leistungsstarken Gesundheitssystem, in Deutschland bisher zu einer raschen Eindämmung der Pandemie und einer relativ geringen Zahl an Toten geführt. Wenn dieses Verhalten im Nachhinein als übertrieben oder überzogen, als zu staatstreu oder von geheimen Mächten gesteuert dargestellt wird, erklärt sich das für mich mit dem «Paradox der Prävention»: Es ist nicht eingetreten, was als das Schlimmste hätte geschehen können, weil entschiedene Maßnahmen getroffen worden sind. Dass wir in Deutschland bisher so glimpflich davongekommen sind, heißt nicht, «dass es ja nicht so schlimm war», sondern dass die Maßnahmen wirksam waren. Erst im Rückblick werden wir klarer sehen, was richtig und was falsch war und daraus für die Zukunft lernen können. Aber selbst dann wird es immer noch besser gewesen sein, mit den getroffenen Maßnahmen  wirtschaftliche und gesellschaftliche Risiken eingegangen zu sein, als nichts zu tun, und ein noch viel größeres Risiko in Kauf zu nehmen.

Mein Glaube bewahrt mich in dieser Situation vor Fatalismus und Resignation, er hilft mir, die Angst vor dem Tod auszuhalten und er lenkt meinen Blick nicht nur auf das eigene Schicksal, sondern richtet meine Aufmerksamkeit auch auf die Folgen der Krankheit für andere Menschen, in Deutschland und darüber hinaus. Mein Glaube führt mich in ein kontinuierliches betendes und hörendes Gespräch mit Gott und der Welt, um die bohrenden Fragen auszuhalten und die eigene Situation zu verstehen und zu angemessenem Verhalten zu finden. Der christliche Glaube hilft mir, komplexe Situationen und Ambivalenzen auszuhalten und nicht zu einfachen Antworten und Lösungen zu greifen. Aus dem Gespräch mit Gott schöpfe ich immer wieder die Kraft, mit entschiedener Hoffnung, ja sogar mit einem gewissen Trotz gegen die Bedrohung anzugehen und gegen den Augenschein auf die Liebe Gottes zu vertrauen, der unseren Untergang nicht will:  «Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht». (1. Mose 8,22)  
 
Zum Weiterdenken:
Wie hilft Ihr Glaube Ihnen bei der Bewältigung der Pandemieerfahrungen?

5. Was bedeutet die Corona-Pandemie für die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck?

Durch die Pandemie sind Menschen aus unserer Landeskirche gestorben. Andere haben Angst um ihren Arbeitsplatz und ihre wirtschaftliche oder berufliche Existenz. Viele leben seit Monaten zurückgezogen, ohne Besuch und abgeschnitten von ihrem bisherigen Leben. Für die Kirche als Organisation hat die Pandemie zu einer Disruption, zu einem plötzlichen Abbruch und einer fundamentalen Erschütterung vieler kirchlicher Arbeitsfelder geführt, aber auch neue Chancen entstehen lassen. All diese Erfahrungen müssen jetzt für die weitere Entwicklung der Kirche fruchtbar gemacht werden.

Erläuterung:
Die Corona-Pandemie hat uns als Kirche vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Wie gestalten wir Gemeinschaft in sozialer Distanz? Wie feiern wir Gottesdienst, wenn wir uns nicht in Kirchen versammeln können und vor allem: Nicht singen können? Wie feiern wir Abendmahl? Wie gestalten wir kirchenmusikalische Arbeit und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen unter Pandemie-Bedingungen? Wie unterstützen wir die, die durch Corona besonders betroffen sind?

Neben viel Verunsicherung, Schmerz und Hilflosigkeit hat die Pandemie auch viel Kreativität freigesetzt. So sind neue Gottesdienstformen entstanden (Gottesdienst «to go», digitale Gottesdienste und Andachten) und digitale Bildungsangebote entwickelt worden, Sorgenetze verstärkt oder weitergeknüpft worden. Viele neue Kontaktflä-chen zu Menschen, die bisher nicht in unsere Kirchen kommen, haben sich entwickelt. Wir haben erfahren, dass Menschen offene Kirchen intensiv zum persönlichen Gebet nutzen, auch wenn keine Gottesdienste stattfinden. Und wir haben eine hohe Sensibilität und Aufmerksamkeit für den christlichen Umgang mit Sterben und Tod und die christliche Botschaft von Hoffnung und Auferstehung erlebt, in den Medien wie in persönlichen Begegnungen. Außerdem werden alte Fragen neu gestellt und neue Fragen aufgeworfen, z.B. zu Theodizee, zur Rolle der Ordinierten und der Gemeinde bei der Gestaltung von Sakramenten und Kasualien oder im Blick auf digitales Abendmahl.

In dem Diskurs um die Bedeutung von Kirche für Staat und Gesellschaft haben vor allem die seelsorgerliche, die diakonische und die mediale Dimension eine große Rolle gespielt. Die Begleitung und Versorgung von Kranken, Sterbenden und Trauernden wurde auch im Lockdown vielerorts als «systemrelevant», vor allem aber als lebens-relevant wahrgenommen und ermöglicht. An einigen Orten, in manchen Situationen waren wir als Kirche nicht präsent genug. Auch jetzt ringen wir noch um eine gute Balance zwischen dem Schutz des Lebens von Menschen in Pflegeeinrichtungen und anderen sozialen Einrichtungen im Verhältnis zu deren Bedürfnis nach Kontakt, Begleitung und Teilhabe und um angemessene Formen, die vielen Toten zu betrauern.

Die Pandemie hat soziale Ungerechtigkeit verschärft und – wie durch ein Brennglas –  soziale Probleme sichtbar gemacht. Hier wird die evangelische Kirche zusammen mit anderen in der Zivilgesellschaft hinschauen zu denen, die vergessen oder übervorteilt werden. Sie wird Ungerechtigkeit benennen und nach Kräften an ihrer Beseitigung arbeiten.

Jetzt gilt es, coronataugliche Formate für Gottesdienst, Seelsorge, Diakonie und Bildung zu finden. Die Zeit der Absage aller Angebote ist vorbei. Gottesdienste im Freien oder – wenn die Kirche zu klein ist - an anderen Orten, Angebote für Kinder und Jugendliche, die kreativ und verantwortungsvoll mit dem Abstandsgebot umgehen, Seelsorge am Telefon oder über den Gartenzaun, diakonische Hilfe und Begleitung in umsichtiger Präsenz, das ist jetzt von uns gefordert.

Dabei stehen wir vor der Herausforderung, die neuen Kontaktflächen und neu entwickelte Angebote in ein «neues Normal» zu überführen und die bisherigen Strukturen und Angebote zu überprüfen. Nicht alles, was es vor Corona gab, wird es auch nach Corona geben müssen und können.

Die Corona-Pandemie hat der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck als Organisation vor Augen geführt, wie notwendig transparente Kommunikation, effiziente Entscheidungsstrukturen im Krisenfall und funktionsfähige digitale Infrastruktur sind. Sie hat gezeigt, wo Kooperation untereinander und in die Zivilgesellschaft und zu staatlichen Behörden funktioniert und wo nicht. Die Pandemie hat aber auch die demokratischen Prozesse (Synoden) und Möglichkeiten der Teilhabe beschränkt, Formen der kreativen Beteiligung und Beratung behindert und vor allem Gemeinschaftserfahrungen verhindert.

Die finanziellen Folgen der Pandemie werden Entwicklungen im Blick auf Kirchenaustritte und Ressourcen der Kirche beschleunigen. Wir werden mit weniger Geld ausgestattet sein und daher klug wirtschaften müssen, um notwendige Entwicklungen für eine zukunftsfähige Kirche zu eröffnen.

So werden wir verändert, mit einem neuen Blick auf kirchliche Arbeit, in mancherlei Hinsicht auch gebeutelt und gezeichnet aus der Krise kommen.

Zum Weiterdenken:
Was haben Sie in der Corona-Pandemie im Blick auf die Rolle von Kirche und für die zukünftigen Strukturen und Formen kirchlicher Arbeit entdeckt?

6.    Was lernen wir aus der Pandemie-Erfahrung? Was nehmen wir mit aus dieser Zeit?

Die Corona-Pandemie ermöglicht Erfahrungen auf vielen Ebenen, die uns darüber nachdenken lassen, wie wir unser Leben künftig gestalten, als Menschen aber auch als kirchliche Organisation. Die Pandemie legt Ungerechtigkeiten frei und lässt uns unsere Fähigkeit zu solidarischem Handeln über die reine Krisenbewältigung hinaus erleben.

Erläuterung:
Die ersten Wochen des (in Deutschland ja relativ gemäßigten) «Lockdowns» setzten Erfahrungen von Verzicht, von Konzentration auf das Wesentliche und Entschleunigung frei, die viele Menschen sehr intensiv über ihr Leben nachdenken ließen. Gleichzeitig brachten sie an vielen Stellen Ungerechtigkeiten und Defizite in unserer Gesellschaft zum Vorschein, die uns weiter beschäftigen müssen.

Das führt zu einem neuen Nachdenken über das Leben, über die Verletzlichkeit von Leben und das, was Leben ausmacht. Solche Fragen wurden nicht nur im Zusammenhang mit der «Triage» diskutiert («Welches Leben retten wir angesichts knapper Ressourcen?»), sondern auch im Blick auf die Menschen, die in Pflegeeinrichtungen und Hospizen leben und von der Außenwelt und ihren Familien isoliert wurden, um ihr Leben zu schützen. Diese Erfahrung hat in bisher kaum gekannter Schärfe gezeigt, wie wichtig die soziale Dimension für unser Leben ist. Daraus ergeben sich z.B. Abwägungsprozesse im Blick auf Lebensqualität und Risiken in der Begleitung hochaltriger und sterbender Menschen. Der Satz des Bundestagspräsidenten Schäuble, dass das Leben nicht das höchste Gut sei, ist zwar missverständlich, bringt aber einen wichtigen Aspekt zum Vorschein: «Christen beten nicht die Kräfte des Lebens an. Der Gott der Lebendigen ist nicht das Leben selbst.» (G. Thomas). Es geht nicht nur um das «gute Leben». Es geht auch um ein Sterben in Würde.

Corona hat zu massiven Ausgrenzungen geführt, z.B. im Blick auf Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die im Homeschooling erschwerte Bedingungen haben, oder im Blick auf Prozesse der «Retraditionalisierung», die zum Rückfall in alte Rollenmuster von Frauen und Männern führten. In vielen Familien wurden Frauen deutlich stärker mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie belastet; die Gewalt in Familien ist gestiegen; Alleinerziehende gerieten in sehr schwierige, oft überfordernde Situationen; pflegende Angehörige kamen an ihre Grenzen und wurden allein gelassen. Auch geflüchtete und traumatisierte Menschen haben unter den Folgen der Pandemie in besonderer Weise gelitten. Hier haben auch die Kirchen und die Diakonie unter Corona-Bedingungen nicht so helfen können, wie es nötig gewesen wäre.

Die Corona-Pandemie hat uns deutlich vor Augen geführt, dass nicht nur Wirtschaftszweige und Banken «systemrelevant» sind, sondern auch «Care-Arbeit», also die Pflege und Begleitung von Kindern, kranken, behinderten oder alten Menschen. Das hat bleibende Fragen zur finanziellen Ausstattung und Bewertung dieser Arbeit geweckt. Ich hoffe, dass sich nicht nur in der Fleischindustrie oder bei den Erntehelfern, Paketboten und Kassiererinnen, sondern auch im Blick auf Pflege und Bildung in unserer Gesellschaft nachhaltig Wertschätzung und finanzielle Entlohnung ändern, auch wenn das eine Umverteilung der staatlichen Haushaltsausgaben oder sogar höhere Versicherungsbeiträge und Steuern nach sich zieht.

Nationale Grenzen und Egoismen traten durch Corona in einem Maße zutage, das ich für überwunden gehalten hatte. Die Bedeutung und Zukunft der europäischen Gemeinschaft steht infrage. Hier bekommen ökumenische Partnerschaften und Kontakte eine wichtige Rolle, um diesen Abgrenzungen weltweite Verbundenheit und Solidarität entgegenzusetzen und auch die ferneren Nächsten ins Blickfeld zu rücken.

Für den Umgang mit dem Klimawandel haben wir etwas Entscheidendes erfahren: Wir sind offenbar durchaus in der Lage, unsere Gewohnheiten von einem Tag auf den anderen zu ändern, wenn wir wissen: «Es ist notwendig. Wenn wir es nicht tun, wird es für uns und andere lebensbedrohlich.» Das stimmt mich etwas optimistischer, dass wir auch für die Begrenzung der Erderwärmung und den Klimawandel als Bedrohung unseres Planeten und damit unserer Lebensgrundlagen etwas gelernt haben und in der Lage sein werden, die notwendigen Veränderungen in unserem Konsumverhalten anzugehen und sozial verträglich zu gestalten. Die Folgen des Klimawandels sind schon spürbar, aber sie sind für uns in Deutschland offensichtlich noch nicht so drastisch zu erkennen, wie die Folgen der Pandemie es waren. Während es gegen Covid19 irgendwann hoffentlich einen Impfstoff geben wird, wird es gegen den Klimawandel keinen Impfstoff geben. Auch ein sechswöchiger Lockdown wird das Problem nicht lösen. Aber es gibt ein klares Rezept: Erderwärmung stoppen, also CO2-Ausstoß senken. Das heißt: unser Verhalten, insbesondere unsere Konsumgewohnheiten, ändern. Die Corona-Erfahrung zeigt mir: Wir können das; zumindest können wir mehr davon, als wir bisher dachten!

Die Lockerung des Shutdown gibt uns die Möglichkeit, das schon einzuüben. Dazu gehört für mich, dass wir zukünftig genauer überlegen: Welche Sitzung muss analog stattfinden und was geht auch ohne Fahrtkosten und mit weniger Klimabelastung digital? Schon jetzt heizen wir nicht jede Kirche den ganzen Winter über. Zukünftig gilt es noch mehr zu fragen: Wo und wie finden wir klimaverträgliche Orte und Formen der Begegnung? Eine zeitgemäße Kirche wird noch flexibler und noch vielfältiger sein können als wir bisher dachten. In all den Beschränkungen erleben wir auch neue Freiheiten und Möglichkeiten. Das gilt für alle Formen des kirchlichen Lebens, auch für den Gottesdienst, wie wir ihn bisher kannten.

Dazu gehört auch die Erfahrung, dass uns technische Möglichkeiten, vor allem durch die Digitalisierung, geholfen haben, die Krise zu gestalten. Es entstanden neue Formen von Begegnung, von Arbeit und Austausch, die einerseits ein neues Licht auf die technische Entwicklung als Verbesserung unseres Lebens geworfen haben, andererseits aber kritische Fragen im Blick auf Energieverbrauch, Arbeitsschutz, Datenschutz, Abgrenzung vom Arbeitsleben und Kommunikationskultur verstärkt haben. Auch die Frage nach dem ökologischen Fußabdruck der Digitalisierung muss neu gestellt werden: Ist ein Online-Meeting ohne stundenlange Fahrten der Beteiligten auch unter dieser Perspektive ein Fortschritt oder verschärfen sich damit die Probleme des CO² -Verbrauchs?
Hier sind Digitalisierungsprozesse in Gang gekommen, die wir auch als Kirchen aufmerksam wahrnehmen und gestalten sollten. Ganz offensichtlich hat die Corona-Krise einen gesellschaftlichen Wandlungsprozess beschleunigt, dessen Auswirkungen noch nicht genau absehbar sind, die aber vielerorts neue Wege der Gestaltung von Gemeinschaft eröffnet haben. Dafür sprechen auch die vielfältigen Formen von Gottesdienst, Seelsorge und Bildung mit den digitalen Werkzeugen, die es auch unter den schmerzhaften (und wohl noch eine Weile andauernden) Bedingungen der Einschränkung der Versammlungsfreiheit ermöglichen, christliche Gemeinschaft zu gestalten.

Und schließlich hat die befristete Einschränkung mancher Grundrechte und Freiheiten noch einmal eindrücklich deutlich gemacht, welch hohes Gut sie darstellen. Diese bürgerlichen Freiheiten werden von den Kirchen öffentlich vertreten und gefördert. Als kritisches Gegenüber zum Staat - bezogen auf das Evangelium als unserer Basis - begleiten wir die Gestaltung, Ausweitung und Fortentwicklung der Grundrechte wachsam. Hier hat die Corona-Krise die Verantwortung von Christinnen und Christen für das Gemeinwohl – auch darin, worin sie gescheitert sind – zum Vorschein gebracht. Die hohe Bereitschaft der Kirchen, den Lockdown aktiv mitzugestalten, ist Ausdruck bürgerschaftlichen Engagements und gesellschaftlicher Mitverantwortung, die ein Teil unserer christlichen Verantwortung ist, auch und gerade weil er für uns schmerzhafte Einschnitte mit sich brachte. Aber es gab und gibt auch viele Neuaufbrüche und Innovationen. Es wird nun darum gehen, diese Erfahrung in den Prozess der Gestaltung einer «neuen Normalität» einzubringen.

Zum Weiterdenken:
Was haben Sie entdeckt, das in Zukunft wichtig für Ihr Leben und wichtig für Kirche und Gesellschaft sein könnte? Wie hat die Pandemie Ihre Wahrnehmung des Lebens und Ihre Arbeit verändert? Was davon wollen Sie in die Zeit nach Corona mitnehmen?

Zum Schluss:

Die Corona-Pandemie ist noch nicht vorbei. Auch wenn für viele Menschen in Deutschland das Leben wieder «normaler» geworden ist, gibt es weiter «Hotspots» der Ausbreitung des Virus und Menschen, die sich zurückziehen und schützen müssen, weil für sie eine Ansteckung zu riskant ist. In anderen Ländern sterben nach wie vor viele Menschen an Covid19. Auch die finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie sind noch lange nicht bewältigt. Wir werden weiterhin zu verantwortlichem, solidarischem und klugem Handeln herausgefordert sein.
In all dem sind wir begleitet vom Geist Gottes, der Verzagtheit überwindet und uns ermutigt und stärkt. Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. (2. Tim 1,7)   

Bischöfin Dr. Beate Hofmann
Kassel, den 20.7.2020

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