Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 19 Dez 2008

Hamburg/Kassel (medio). In einem Gastkommentar für die in Hamburg erscheinende Tageszeitung «Die Welt» haben die kurhessische Landessynodale Christiane von der Tann sowie J.-Matthias v.d. Schulenburg die gegenwärtigen Strukturen und die Praxis der Evangelischen Kirchen in Deutschland kritisiert und gefordert, die «Volkskirche» müsse stärker die «Nähe zum Volk» suchen.

Wir dokumentieren den Beitrag im Wortlaut:
  
Wir brauchen Hirten, keine Verwalter
Lasst uns Volkskirche sein!

In den Synoden werden wir mit anhaltenden Kirchenaustritten konfrontiert, wo doch der christliche Glaube etwas zu bieten hat, das «Salz der Erde» sein soll. Für die Loslösung gibt es drei Gründe: Die Kirchenobrigkeit pflegt Mythen, die Kirche kennt ihre Mitglieder nicht und die Mitglieder kümmern sich nicht um ihre Kirche. Zu den Mythen der Amtskirche gehören Aussagen wie: «Wir suchen Wahrheit und erfülltes Leben - Gott liebt die Verschiedenheit und will die Einheit - unsere Gemeinden sind Oasen zum Auftanken». Warum nehmen dann so wenige Menschen am Gemeindeleben teil?

Geistlicher Austausch ist mit dem einstelligen Prozentsatz der sonntagtäglichen Kirchgänger und dem bunten Gemeindebrief «an alle Haushalte» nicht zu erreichen. Gut besuchte Kirchenkonzerte täuschen über das Verhältnis zur Kirche hinweg. In Wahrheit kennt die Kirche ihre Mitglieder und deren Bedürfnisse zu wenig. Wie beim Hausarzt alter Prägung sollten der Hausbesuch, nur eingeschränkt an Laien delegierbar, und das persönliche Gespräch wieder ein Kernstück der Gemeindearbeit sein. Man kann Jahrzehnte in einer Gemeinde leben und der Pfarrer hat nie ein Wort mit einem gewechselt. Erst beim Austritt erlangt man wenigstens eine statistische Beachtung. Die Klage vieler Pfarrer, die administrativen Aufgaben ließen für Kontaktpflege zu wenig Zeit, muss überprüft werden. Ist die Organisation gemeindlicher Einrichtungen angenehmer als die seelsorgliche Feldarbeit, oder wird der Pastor tatsächlich durch Bürokratie vom Hirtenamt abgehalten?

Der Kommunikation der verfassten Kirche mit der Basis steht die Aufteilung der Kirchenverwaltung in Juristen und Theologen im Wege. Neben Bibelexegese und Verwaltung muss sich Kirche auch als «Anbieter» begreifen und ein entsprechendes Management haben - und das bedeutet keine Ökonomisierung und Entgeistlichung. Unerlässlich sind auch Qualitätskontrollen, wie sie heute von der Volkshochschule bis zum Wirtschaftsunternehmen Standard sind. Qualität heißt nicht nur Spitzenleistung sondern auch Fehlervermeidung.

Inhaltlich fesselnde Gottesdienste bewegen zum Wiederkommen. Anstelle diffuser Verantwortungen wünschen wir uns eine Kirchenleitung, die sowohl deutlich lobt als auch Missstände erkennt und abstellt. Klare Leitung steht nicht im Widerspruch zum protestantischen Grundprinzip freiheitlicher Eigenverantwortung. Wird das nicht beachtet, könnte das Vakuum für die Kirche zum Existenzproblem werden. Als Volkskirche muss sie die Nähe zum Volk suchen. 

C.v.d.Tann ist Landessynodale der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. J.-M. v.d.Schulenburg ist Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre an der Leibniz Universität Hannover; erschienen in «Die Welt» am 18.12.2008