Wortwolke mit wichtigen Begriffen rund um das Thema Demokratie
Kassel / Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 24 Mai 2024

Die Kirchen rufen auf, zur Europawahl zu gehen und sich für die Demokratie einzusetzen. Warum tun sie das?

Christina Schnepel: Wir Kirchen haben eine Vorstellung davon, dass wir nicht alleine auf der Welt sind. Und die Europäische Union ist ein Konstrukt, das genau das verwirklichen möchte: die Idee des Zusammenlebens. Es ist der Gedanke, dass wir in einer größeren Einheit als in Nationalstaaten zu einem besseren und tieferen Zusammenleben kommen. Damit ist auch gesichert, dass wir uns verlassen können auf das Einhalten von Menschenrechten, von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, von Religionsfreiheit. Das sind die Werte, für die die Europäische Union steht.

Wir in der Kirche sprechen ja davon, dass wir alle eins sind. In der Ökumene denkt man das noch weiter: Dann sind wir nicht nur eins mit den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union, sondern es gibt dann auch eine spirituelle Einheit.

In der Bibel kommt Demokratie meines Wissens nicht vor. Jesus wurde nicht vom Volk gewählt und Gott hat nicht über die zehn Gebote abstimmen lassen. Ist das – theologisch gesehen – eine Weiterentwicklung?

Schnepel: Es ist einfach eine Staatsform, und zwar eine, in der möglichst breit gesichert ist, dass das Zusammenleben friedlich und gerecht verläuft und dass auch die Stimmen der Schwächeren gehört werden. Das prägt auch unser christliches Zusammenleben. Nicht die Macht an sich, also der oder die Stärkere, hat das letzte Wort. Die Stimme der Schwächeren muss genauso viel zählen und hörbar gemacht werden. Dafür stehen sowohl die Demokratie als auch wir Kirchen ein.

Zur Person:
Portraitfoto von Christina Schnepel

Pfarrerin Christina Schnepel (52) ist im Zentrum Oekumene der beiden hessischen Landeskirchen für Entwicklung und Partnerschaft in Europa und den USA zuständig sowie für die Aktion «Hoffnung für Osteuropa». Nach ihrem Studium war sie Gemeindepfarrerin in Zierenberg und Burghasungen, dann Auslandspfarrerin in Moskau. Nach ihrer Rückkehr war sie kirchliche Beauftragte für Flucht und Migration und im Anschluss Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Hofgeismar.

Das Interview führte Olaf Dellit, Redakteur im Medienhaus der EKKW.
 

Beide Kirchen haben sich in jüngster Zeit klar von rechtsextremen Positionen abgegrenzt. In manchen Verlautbarungen wird explizit die AfD genannt. Ist es Aufgabe der Kirche, Wahlempfehlungen zu geben?

Schnepel: Wenn bestimmte Positionen menschenfeindlich sind, wenn sie ausgrenzend sind und die Stimme der Schwächeren weiter marginalisieren, dann ja. Umgekehrt ist es wichtig, das Positive hervorzuheben. Wofür stehen wir und nicht unbedingt nur: wogegen? Das zeigt dann ganz deutlich, in welche Richtung wir als Kirchen denken und wofür wir einstehen.

Sie sprechen von Positionen, die dem christlichen Menschenbild entgegenstehen. Gibt es auch Graubereiche, was noch christlich ist und was nicht?

Schnepel: Auf der politischen Ebene sind das genau die Aushandlungsprozesse, die eine Demokratie verhandeln muss. Natürlich hoffe ich, dass die Demokratie so stark ist, dass klar ist, welche Werte die Menschen zu einem gerechten Zusammenleben führen. müssen wir uns darauf verlassen können, dass die Wahlen darüber entscheiden, wie wir zusammenleben. Die Aufgabe für uns Kirchen ist, deutlich zu machen, wofür wir stehen: Diskriminierendes, menschenfeindliches, rassistisches Verhalten ist nicht mit einer christlichen Haltung vereinbar. Das ist dann natürlich auch eine politische Stimme, die wir erheben.

In der Kirche gibt es ein breites Spektrum von Mitarbeitenden und Mitgliedern. Da gibt es sicher auch Menschen, die AfD-Positionen gut finden, vertreten, wählen. Wie kann man damit umgehen?

Schnepel: Die Diakonie Deutschland hat sich zuletzt dahingehend geäußert, dass wer die AfD wählt, nicht bei der Diakonie arbeiten kann. Wir müssen aber natürlich mit den Menschen, die mit diesen Positionen liebäugeln, im Gespräch bleiben.

Ich glaube, was im Moment unglaublich gefährlich ist, ist die populistische Sprache. Sie breitet sich in der Gesellschaft aus und hat längst auch unsere Politik erreicht. Wir Kirchen können erklären, dass die Zusammenhänge komplex sind und wir aus dieser Komplexität auch nicht herauskommen. Das zeigt sich ganz deutlich an Themen wie dem gemeinsamen Migrations- und Asylsystem oder auch an der europäischen Agrarpolitik.

Unser großes Ziel muss es sein, für gerechte Lebensverhältnisse und für Solidarität in Europa einzustehen und nicht für einfache Lösungen. Wir müssen diese komplexen Zusammenhänge vermitteln, zum Beispiel in unseren Einrichtungen wie der Evangelischen Akademie, hier im Zentrum Ökumene, aber auch in Gemeindeveranstaltungen.

In diesem Jahr wird das Grundgesetz 75 Jahre alt und gleichzeitig werden Politikerinnen und Politiker auf offener Straße attackiert. Sind das schon Weimarer Verhältnisse?

Schnepel: Wir müssen wirklich gut aufpassen. Ich bin sehr froh, dass es nach dem Angriff auf den SPD-Politiker Matthias Ecke in Dresden sofort eine große Welle der Solidarität gab und deutlich gemacht wurde, dass wir solche Übergriffe nicht akzeptieren können. Wir müssen immer miteinander sprechen und nicht der Versuchung nachgeben, die Dinge zu einfach zu sehen. Vor allem darf man nicht der Versuchung der Gewalt nachgeben.

Haben Sie eine Erklärung, warum Extrempositionen Zulauf haben? Ist der Grund eine allgemeine Verunsicherung?

Schnepel: Auch da gibt es, glaube ich, eine komplexe Antwort. Die europäische Gesellschaft sieht sich seit Jahren mit einer fortwährenden Kampagne der Destabilisierung konfrontiert. Darauf kann man nicht alles schieben, aber diese Kampagne trifft den Wunsch vieler Leute nach einem einfachen Leben, wie es angeblich einmal war, also vor den Herausforderungen von Covid, Migrationskrise, Klimakrise und dem Krieg in der Ukraine. Dahin wünschen sich manche zurück.

Manche denken, man könne diese Krisen in einem kleineren Rahmen einfach ausschließen. Das geht aber nicht, weil wir mit der ganzen Welt verbunden sind. Es wird in Zukunft immer mehr darum gehen, dass wir unsere Lebensverhältnisse mit denen an anderen Orten in Einklang bringen und die Frage nach Gerechtigkeit stellen müssen. Wir auf der Nordhalbkugel werden uns immer wieder fragen lassen müssen, ob wir verzichten. Und das ist ein Punkt, der große Aggressionen hervorruft, weil das niemand gerne hört.

Manch scheinbare Gewissheiten haben sich aufgelöst. Ich denke an das Verhältnis zu Russland. Sie haben sechs Jahre in Moskau gelebt, wie erleben Sie jetzt die Veränderung?

Schnepel: Das ist ein gutes Beispiel. Wir haben jahrelang das Verhältnis zu Russland unter dem Motto «Wandel durch Handel» gepflegt. Die Überlegung war, dass sich mit einer guten Wirtschaftsentwicklung auch andere Ebenen der Gemeinsamkeit ausbreiten, auch Frieden und Demokratie. Es ist immer noch ein großer Schock, dass das nicht funktioniert. 

Die Demokratie müssen wir auch in kleinen Einheiten pflegen und zum Beispiel mit gewaltfreier Kommunikation arbeiten. Deswegen sind auch Kirchengemeinden so wichtig, weil genau das dort geübt und gepflegt werden kann. Das gilt auch im Miteinander zum Beispiel mit anderen Religionen. Dort kann man der Frage nachgehen: Was macht eigentlich unser Zusammenleben aus?

Das ist die Gemeinde-Ebene. Aber was kann ich als Einzelner oder Einzelne für die Demokratie tun?

Schnepel: Wir müssen gut aufeinander aufpassen und dafür bieten sich jeden Tag Gelegenheiten, ob in der Bahn oder beim Bäcker. Wir können bei kleinen Gelegenheiten für Menschenwürde und Menschenfreundlichkeit eintreten. Wir können bei rassistischen Andeutungen den Mund aufmachen. Es ist allerdings schwer, den Schritt zu tun und sich als jemand zu zeigen, der oder die den Mut hat, demokratische Grundsätze oder Menschenliebe nach außen hin zu zeigen.

Was kann man noch tun?

Schnepel: Ehrenamtliches Engagement natürlich. Und: wählen gehen. Es ist wichtig, nicht zu vergessen, was für unglaubliche Möglichkeiten Europa bietet. Es ist doch ein Traum, dass man die Möglichkeit hat, in allen Staaten Europas zu arbeiten und sich dort niederlassen. In Europa steckt eine solche Vielfalt an Sprachen und Kulturen. Wir sind ein Teil dieses demokratischen Europas, davon sollten wir erzählen.

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