Sexualisierte Gewalt

Prävention

Maßnahmen, die geeignet sind, unerwünschte Handlungen zu verhindern oder einen unerwünschten Zustand abzuwenden, werden unter dem Oberbegriff „Prävention“ zusammengefasst. Um so weit wie möglich zu verhindern, dass es im Raum der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck zur Ausübung sexualisierter Gewalt kommt, wurde bereits ein ganzer Katalog von Anforderungen und Maßnahmen kirchenrechtlich verankert. Alle kirchlichen Einrichtungen und Angebote sowie deren haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter:innen sind dadurch auf die Einhaltung grundlegender Schutzstandards verpflichtet.

Aber die Aufgabe der Prävention ist keine Aufgabe, die nur einmal ansteht, um dann für immer erledigt zu sein. Vielmehr bleiben vorbeugende Maßnahmen und entsprechende Achtsamkeit Daueraufgaben: Immer wieder neu muss analysiert werden, welche Faktoren entsprechende Verhaltensweisen und Taten begünstigen, welche Schutzmaßnahmen die gewünschte Wirkung entfalten und was Betroffenen tatsächlich hilft. Auf der Grundlage dieser Überprüfungen müssen dann bisherige Präventionsstrategien überarbeitet und ggf. neue Anforderungen oder Maßnahmen entwickelt werden.

Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck kann nur zu einem schützenden Raum werden, in dem alle Menschen vor sexualisierter Gewalt sicher sind, wenn alle Beteiligten die notwendige Achtsamkeit walten lassen. Bischöfin Dr. Beate Hofmann schreibt dazu: „Kirche wird zu einem Sprechraum, in dem Menschen jeden Alters leidvolle Erfahrungen zur Sprache bringen können. Sie finden dort ein offenes Ohr und werden ernstgenommen. erlittenes Unrecht wird nicht vertuscht oder Täterverhalten beschwichtigt. (…) Um das zu erreichen, brauchen wir einen Kulturwandel. Wo bisher Schweigen, Beklemmung, Tabuisierung, manchmal auch Verschweigen und Wegschauen dominiert haben, müssen wir wahrnehmen, vorbeugen und miteinander sprechen üben.“ Auf diesem Weg kann sich eine Kultur des Respekts und grenzachtenden Verhaltens etablieren, die sexualisierte Gewalt in allen Formen und Abstufungen möglichst verhindert. Und, wo sie dennoch geschieht, kann sie frühzeitig erkannt und gestoppt werden.

Fachstelle zum Umgang mit sexualisierter Gewalt

Die zentralen Präventionsmaßnahmen sind im Rahmenschutzkonzept der Landeskirche festgehalten. In der Fachstelle zum Umgang mit sexualisierter Gewalt der EKKW laufen alle Fäden, die dieses Handlungsfeld betreffen, zusammen und zentrale Aufgabenstellungen werden hier bearbeitet.

Nachfolgend finden Sie dazu die wichtigsten Informationen im Überblick:

Verankerung im Leitbild

Das Selbstverständnis, dass Kirche ein Schutzraum ist, in dem alle Menschen vor sexualisierter Gewalt geschützt werden, wird durch leitende Gremien festgestellt, im Leitbild oder in der Konzeption verankert und in geeigneter Weise veröffentlicht. Dies verdeutlicht den Stellenwert, der dem aktiven Schutz vor sexualisierter Gewalt zugesprochen wird.

Bestandsaufnahme und Risikoanalyse

Bisherige Erfahrungen mit dem Thema sexualisierte Gewalt werden zusammengetragen und Angebote und Gebäude auf entsprechende Risiken hin analysiert. Aus den Ergebnissen werden Maßnahmen abgeleitet, mit deren Hilfe die Risiken beseitigt oder zumindest minimiert werden können. Dazu gehört auch der gemeinsame Blick darauf, wo mit bestimmten Vorgehensweisen bereits gute Erfahrungen gemacht wurden und wie diese auf andere Bereiche übertragen werden können. Besonders wichtig ist es in diesem Zusammenhang, auch darüber zu sprechen, wo möglicherweise (informelle) Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse bestehen, die einen besonders sorgfältigen Umgang mit dem Abstands- und Abstinenzgebot verlangen. Deshalb darf hier nicht nur auf Kinder und Jugendliche geachtet werden, sondern der Blick muss auch auf vulnerable erwachsene Personen gerichtet werden.

Verhaltenskodex

Die Verpflichtung auf einen gemeinsamen Verhaltenskodex schafft Verhaltenssicherheit bei kirchlichen Mitarbeitenden, aber auch bei denjenigen, die kirchliche Angebote nutzen. Der Verhaltenskodes kann und soll auch eine Sprachhilfe sein, um Grenzüberschreitungen benennen und ansprechen zu können. Über den allgemeinen Verhaltenskodex hinaus müssen für spezialisierte Arbeitsbereiche fachspezifische Konkretionen in Form von fachlichen Standards formuliert werden. Um angemessene Wirkung zu entfalten, müssen Verhaltenskodex und fachliche Standards transparent gemacht und so veröffentlicht werden, dass sie auch allen Nutzer:innen kirchlicher Angebote und Einrichtungen zugänglich sind. Auf diese Weise konkretisiert ein Verhaltenskodex das Abstands- und Abstinenzgebot.

Umgang mit Mitarbeitenden

Bereits in Vorstellungs- und Kennenlerngesprächen werden – abhängig vom Arbeitsfeld – Verhaltenserwartung, Kompetenzen und Erfahrungen im Kontext sexualisierter Gewalt besprochen. Wo immer mit pflege- und schutzbedürftigen oder auf andere Weise abhängigen Personen gearbeitet wird, ist es selbstverständlich, dass Arbeitssituationen und Erfahrungen regelmäßig entsprechend reflektiert werden. Für diese Arbeitsfelder besteht auch die gesetzlich geregelte Verpflichtung, dem Arbeitgeber in regelmäßigen Abständen ein aktuelles, erweitertes Führungszeugnis vorzulegen. In allen anderen Arbeitsbereichen sollte das Thema mindestens einmal jährlich in Teambesprechungen auf der Tagesordnung stehen und eine angemessene Regelung zur Vorlage erweiterter Führungszeugnisse getroffen werden.

Sensibilisierung und Schulung

Alle Mitarbeitenden in kirchlichen Arbeitsfeldern müssen über ein Grundwissen zum Thema sexualisierte Gewalt verfügen. In grundlegenden Schulungen gibt es deshalb Übungen zur Sensibilisierung für das Thema, werden Basisinformationen vermittelt und Risiken für mögliche Gefährdungen bewusst gemacht. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang eine Beschäftigung mit dem Erleben von und dem Umgang mit Nähe und Distanz. Darüber hinaus wird nicht nur die eigene Haltung zum Thema reflektiert, sondern auch eine grundlegende Handlungssicherheit für Verdachtsfälle erarbeitet. Leitungskräfte und − je nach Aufgabenbereich – auch Mitarbeitende werden vertieft geschult.

Vernetzung mit externen Fachstellen und fehlerfreundliche Kultur

Um im Verdachts- oder Ernstfall handlungsfähig zu sein und schnell auf externe Beratung zugreifen und Betroffenen kompetente Unterstützung in leicht erreichbarer Nähe vermitteln zu können, braucht es die immer wieder gepflegte und erneuerte Vernetzung mit den Fachberatungsstellen bzw. den anderen kompetenten Akteur:innen in diesem Feld vor Ort (Jugendamt, Polizei, Schulsozialarbeit, „Insoweit erfahrene Fachkräfte“ nach § 8a des SGB VIII). Es ist gut, wenn in Akutsituationen bereits ein vertrauensvolles Verhältnis und eine verlässliche Arbeitsgrundlage besteht. Die Hemmschwelle, im Ernstfall auch über eigene Fehler und Schwachstellen zu sprechen, ist dann wesentlich geringer. Das aber hilft bei einer fundierten Aufarbeitung und reduziert die Gefahr von Vertuschungsversuchen. Eine 
beschwerdefreundliche Kultur ist geprägt durch einen wertschätzenden und respektvollen Umgang aller Beteiligten und deren professionelles Selbstverständnis, welches Fehler als Bestandteil der alltäglichen Berufspraxis begreift.

Stärkung der Zielgruppen

Auf keinen Fall darf das Missverständnis entstehen, dass Menschen, die sexualisierte Gewalt erleben, dafür (mit-)verantwortlich sein könnten. Die Verantwortung für eine Tat liegt immer bei der Tatperson! Trotzdem ist es wichtig, dass sich in Kirche und Gesellschaft eine veränderte Haltung zu Fragen der sexuellen Selbstbestimmung noch breiter verankert. Kein Kind muss sich von einer anderen Person streicheln oder gar küssen lassen – auch wenn diese andere Person die eigene Großmutter ist. Kein Jugendlicher muss beim Flaschendrehen mitspielen. Keine Schwangere hat es hinzunehmen, wenn jemand so gerne ihren Bauch berühren will – egal wie nett das gemeint sein mag. Kein Chef hat das Recht, einen homosexuellen Mitarbeiter im Team zu outen und keine Pflegekraft muss sich von einem demenziell Erkrankten an den Po fassen lassen.

Deshalb ist es wichtig, Menschen, auch und gerade im Kontext kirchlicher Angebote und Veranstaltungen, darin zu stärken, ihre eigenen Grenzen selbst wahrzunehmen und nach außen deutlich zu vertreten. Gerade sexualpädagogische Angebote in Kindertagesstätten und in der Kinder- und Jugendarbeit spielen dabei eine wichtige, unterstützende Rolle.

Nachhaltigkeit

Risiken und gefährdende Verhaltensweisen ändern sich. Sie können durch erfolgreiche Präventionsarbeit geringer werden. Durch Sensibilität für (neue) Risiken, entstehen neue Schutzbedarfe. Deshalb braucht es in regelmäßigen Abständen oder auch anlassbezogen eine Überprüfung der Risikoanalyse und der verabredeten Verhaltenskodizes. Oft ist auch die Fluktuation von Mitarbeitenden oder Nutzer:innen so hoch, dass allein deshalb eine neue Verständigung über Verhaltensregeln und Grenzen erforderlich macht. Nur wenn alle präventiven Maßnahmen und Regelungen laufend aktuell gehalten und immer wieder ins Bewusstsein gerufen werden, können Sie auf Dauer ihre Wirkung entfalten.