Sexualisierte Gewalt

Intervention

Im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt bezieht sich der Begriff Intervention auf Maßnahmen und Strategien, die ergriffen werden, um auf (Verdachts-)Fälle sexualisierter Gewalt zu reagieren. Interventionen zielen darauf ab, die akute Situation zu bewältigen, Schaden zu minimieren, die Betroffenen zu schützen und Tatpersonen zur Verantwortung zu ziehen. 

Die zentrale Perspektive bei jeder Form von Intervention ist die Betroffenenorientierung. Damit ist die unbedingte Parteilichkeit für die Betroffenen gemeint: Ihre Bedürfnisse, Wünsche und ihr Wohlergehen stehen im Mittelpunkt. Daran sollen sich alle Beteiligten orientieren. Dies gilt in besonderer Weise für kirchliche Leitungsverantwortliche. Zudem ist die Zusammenarbeit verschiedener Akteure wie Beratungsstellen, Polizei, Justiz und medizinischem Personal entscheidend, um effektiv handeln zu können. Die nachfolgend dargestellten verschiedene Ebenen und Formen der Intervention wirken im Idealfall im Zusammenspiel.

Fachstelle der EKKW zum Umgang mit sexualisierter Gewalt

Auch für die verschiedenen Aufgaben rund um aktuelle Fälle vor sexualisierter Gewalt laufen die Fäden in der Fachstelle zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in der EKKW zusammen. Die zentralen Interventionsthemen und -aufgaben sind im Rahmenschutzkonzept der Landeskirche festgehalten und hier im Überblick dargestellt:

Clearing

Angesichts der verschiedenen Formen und Ausprägungen sexualisierter Gewalt, ist es oft schwierig, diese differenziert zu erkennen, deren Tragweite abzuschätzen und angemessene Interventionsmaßnahmen einzuleiten.

Hinzu kommt, dass es manchmal gar nicht leicht ist, zu verstehen, ob, wann und wie Betroffene über das Erleben von sexualisierter Gewalt sprechen. Immer wieder äußern sie zuerst vage Andeutungen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob und wie ein Gegenüber darauf reagiert. Manchmal erscheinen Erzählungen wirr oder wenig nachvollziehbar, weil dahinter Erfahrungen stehen, die so sehr belasten, dass sie (noch) nicht als logisch nachvollziehbarer Klartext ausgesprochen werden können. Kinder wiederum bringen ihre Nöte oft zuerst in Form von auffälligem Verhalten zum Ausdruck.

Deshalb ist es wichtig, sensibel auf verschiedenste Äußerungsformen zu reagieren und in behutsamer Weise auf mehr Klarheit hinzuarbeiten. Sobald auch nur ein vager Verdacht besteht, dass im Hintergrund von Erzählungen oder Verhaltensänderungen sexualisierte Gewalt stehen könnte, ist es wichtig, dass nach Möglichkeit eine entsprechend geschulte Fachkraft zu Beurteilung der Situation herangezogen wird. Diese kann in einer externen Beratungsstelle angesiedelt sein oder es kann Beratung durch die Fachstelle zum Umgang mit sexualisierter Gewalt der EKKW in Anspruch genommen werden. Spätestens wenn sich ein Verdacht erhärtet, sind im beruflichen Kontext Vorgesetzte zu informieren und alle weiteren Schritte entsprechend einem vorgegebenen Interventionsplan zu gehen.

Intervention in Akutsituationen

Wenn Sie akut beobachten, dass einer anderen Person sexualisierte Gewalt angetan wird, dann geht es zuallererst darum, die Sicherheit der betroffenen Person wieder herzustellen, ohne sich selbst dabei mehr als nötig in Gefahr zu bringen. Dazu kann die Einschaltung der Polizei notwendig sein oder die Unterstützung durch weitere Personen, wie etwa Passanten. Auch Schutzmaßnahmen wie Kontakt- oder Annäherungsverbote für Tatpersonen durch Polizei und Gerichte können wichtig sein. Um dies zu erwirken kann rechtlicher Beistand hilfreich sein.

Für die Versorgung körperlicher Verletzungen sind die Gewaltschutzambulanzen großer Kliniken hilfreich, aber auch jedes Krankenhaus und jede Arztpraxis sollte dafür inzwischen sensibilisiert sein. Bei der psychische Erst- und Notversorgung unterstützen ggf. Krisendienste und (spezialisierte) Beratungsstellen oder Hotlines. Auch die Telefonseelsorge kann weiterhelfen.

Institutionelle Intervention der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck

Jedes Schutzkonzept einer kirchlichen Einrichtung, eines Veranstaltungsortes oder Angebotes muss auch einen Leitfaden zum Vorgehen im Falle eines Verdachts auf sexualisierte Gewalt enthalten.

Dort darf auch der Hinweis auf die Fachstelle zum Umgang mit sexualisierter Gewalt der EKKW und deren Kontaktdaten nicht fehlen. In allen das Thema betreffenden Fragen kann dort Beratung in Anspruch genommen werden. Außerdem fungiert sie zugleich an Ansprech- und Meldestelle der Landeskirche für alle, die - in welcher Form auch immer - mit Fällen sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche in Berührung kommen.

An erster Stelle steht in der Regel ein Clearing, in dessen Verlauf festgestellt werden soll, ob es sich tatsächlich um sexualisierte Gewalt handelt, welche Tragweite der Verdacht ggf.  hat und welches weitere Vorgehen daraus abzuleiten ist. Schon bei diesem ersten Schritt soll auf keinen Fall eine Person allein entscheiden, sondern immer eine entsprechend erfahrene Person hinzugezogen werden. Wenn Kinder oder Jugendliche betroffen sind, ist immer eine „insofern erfahrene Fachkraft“ hinzuzuziehen (SGB VIII).

Sobald es sich um strafrechtlich relevante Sachverhalte handelt, müssen auch die entsprechenden staatlichen Stellen (Jugendamt, Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht) eingeschaltet werden. Geht die sexualisierte Gewalt von kirchlichen Mitarbeitenden aus, so ist auch die Kirchenleitung zu informieren. Sie entscheidet in der Regel in Zusammenarbeit mit dem Krisenstab, ob und wenn ja welche arbeits- oder dienstrechtlichen Maßnahmen zu ergreifen sind. Zur Klärung kann ein:e Beschuldigte:r vom Dienst freigestellt werden. Diese Maßnahme sagt noch nichts über den Wahrheitsgehalt des Verdachts.

Eine besondere Herausforderung im Zusammenhang mit (Verdachts-)Fällen sexualisierter Gewalt in kirchlich-diakonischen Kontexten ist die Spannung zwischen dem allseitigen Wunsch nach Information und Transparenz einerseits und dem unbedingten Vorrang des persönlichen Schutzes für Betroffene und auch für Beschuldigte, solange deren Schuld nicht festgestellt ist. Hier ist besondere Sorgfalt und wechselseitiges Verständnis von allen Seiten unabdingbar.

An erster Stelle muss bei allen Interventionsschritten immer der Schutz der von sexualisierter Gewalt Betroffenen und deren persönliche Interessen stehen. Daneben steht die unbedingte Verpflichtung der Kirche zu Null-Toleranz gegenüber allen Formen sexualisierter Gewalt und damit die Notwendigkeit, Tatvorwürfen nachzugehen und für bedingungslose Aufklärung zu sorgen. Das bisher oft zu beobachtende Bestreben, so weit wie möglich die Kirche als Institution zu schützen, darf in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen. Wichtig ist es aber auch, Menschen vor falschen Vorwürfen in Schutz zu nehmen bzw., wenn es zu falschen Anschuldigungen gekommen ist, die Betroffenen umfassend zu rehabilitieren.

Beratende und therapeutische Unterstützung

Die Erfahrung sexualisierter Gewalt führt oft zu einer tiefgehenden Verunsicherung. Dies gilt für Betroffene ebenso, wie für deren soziales Umfeld. Aber auch Leitungs- und Personalverantwortliche reagieren oft verunsichert, wenn in ihrem Verantwortungsbereich der Verdacht auf sexualisierte Gewaltausübung auftaucht.

Deshalb haben erfahrene, fachkundige Personen und Beratungsstellen für beide Zielgruppen eine sehr wichtige Funktion. Sie begleiten und unterstützen in allen Phasen des Geschehens, von der akuten Nachsorge bis zur Aufarbeitung. Viele Beratungsangebote können sowohl von Betroffenen und deren sozialem Umfeld als auch von verantwortlichen Leitungskräften zunächst anonym in Anspruch genommen werden.