Kassel. Nach der Veröffentlichung der unabhängigen ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und der Diakonie in Deutschland gab es Diskussionen um die Datengrundlage aus den Akten der Landeskirchen. Forschende bemängelten, dass nicht alle Personalakten ausgewertet worden seien.
Fragen und Antworten dazu, wie es in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) ablief:
Werden die fehlenden Akten noch überprüft?
«Wir haben ein großes Aufarbeitungsinteresse! Wir versuchen, die weitere Aktenrecherche so vorzubereiten, dass die künftige unabhängige regionale Aufarbeitungskommission gut damit arbeiten kann. Die EKKW beschäftigt derzeit rund 9.600 Menschen. Rund 600 Akten werden im Landeskirchenamt aufbewahrt, der weitüberwiegende Teil befindet sich in den 12 Kirchenkreisen, so Prälat Burkhard zur Nieden. Er schätzt, dass annähernd 80.000 Personalakten insgesamt an rund 400 verschiedenen Standorten (inklusive Pfarrämter) der Landeskirche lagern. «Bei all dem gilt es zu bedenken: Auch die weitere Aktenrecherche bildet nur das Hellfeld ab. Wir müssen auch in anderen Bereichen nachschärfen und Betroffene so ansprechen, dass sie wissen, dass sie gehört werden und sich ermutigt fühlen, über das Geschehene zu sprechen», so zur Nieden.
* In einer früheren Version war von rund 15.000 bis 20.000 Personalakten insgesamt an rund 100 verschiedenen Standorten der Landeskirche die Rede. Diese erste Schätzung wurde inzwischen korrigiert.
Was kam insgesamt ans Licht?
Durch die Recherche kamen mehr Fälle als für die ForuM-Studie maßgeblich ans Licht, unter anderem mit erwachsenen Betroffenen. «Aufgrund der in der Aktenreche ermittelten sowie der laufenden und geschätzten Fälle gehen wir nach jetzigem Kenntnisstand von 40 bis 50 Tatpersonen aus. Hochgerechnet auf 800 Kirchengemeinden und Einrichtungen der Landeskirche hat es somit in jeder 20. Gemeinde bzw. Einrichtung unserer Landeskirche mindestens eine beschuldigte Person und eine oft unbekannte Anzahl von Betroffenen gegeben», so Prälat zur Nieden.
Was wurde außerdem überprüft?
Über den Untersuchungsauftrag hinaus wurden alle 820 Personalakten von aktiven Pfarrerinnen und Pfarrern sowie – unterstützt von den sieben pensionierten Polizeibeamtinnen und -beamten – die rund 550 Akten von noch lebenden Pfarrpersonen im Ruhestand auf Auffälligkeiten überprüft.
Und was wurde dabei gefunden?
Angefordert waren sowohl Verdachts- als auch bestätigte Fälle, die sexualisierte Gewalt gegenüber Minderjährigen betrafen. Wir haben 34 Fragebögen zu beschuldigten Personen bzw. Tätern gemeldet, darunter sind 22 Pfarrpersonen. Hinzu kamen 76 Fragebögen zu betroffenen Personen, wobei diese Zahl nicht der tatsächlichen Anzahl der Betroffenen entspricht. Die Dunkelziffer ist deutlich höher.
Wie viele Personen haben die Akten durchgeschaut?
Fünf Mitarbeitende aus dem Landeskirchenamt waren damit beschäftigt. Sie wurden unterstützt von sieben pensionierten Polizeibeamtinnen und -beamten, die von der EKKW als außenstehende und unabhängige Experten eingesetzt wurden.
Wie lief die Aktenrecherche konkret ab?
Untersucht wurden alle Disziplinarakten und alle sonstigen einschlägigen Unterlagen von Pfarrpersonen, die zwischen dem 1.1.1946 bis zum 31.12.2020 zu irgendeinem Zeitpunkt in der Landeskirche beschäftigt waren oder Versorgungsbezüge erhielten. Wenn sich aus der jeweiligen Disziplinarakte oder aus den sonstigen einschlägigen Unterlagen (Protokolle der Propstkonferenzen, diverse Handakten, Akten der Unabhängigen Unterstützungskommission (UUK) bzw. Unabhängigen Anerkennungskommission (UAK), Kirchengerichtsakten, etc.) Hinweise auf sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige ergeben haben, dann wurde die jeweilige Personalakte hinzugezogen und durchgearbeitet.
Hätte denn die EKKW eine komplette Durchsicht stemmen können?
«Dafür hätten wir mehr Personal gebraucht als jene sieben qualifizierten ehemaligen Polizeibeamtinnen und -beamten, die uns bei der Aktendurchsicht unterstützt haben. Trotz Reduktion auf eine Analyse der Disziplinarakten und der sonstigen einschlägigen Unterlagen haben wir aber über das Forschungsdesign hinaus recherchiert (siehe „Was wurde außerdem überprüft?)», erläutert Prälat Burkhard zur Nieden.
Was genau sollte denn überhaupt geliefert werden?
Ursprünglich sah das Forschungsdesign ein Screening von Personalakten in einer Stichprobe von Landeskirchen vor. Dies sollte auf der Basis einer vorgeschalteten Erforschung und Datenerhebung in den Landeskirchen geschehen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der ForuM-Studie haben das Vorhaben dann aber in Absprache mit den Landeskirchen geändert, weil es bereits bei der Datenerhebung in einigen Landeskirchen angesichts der komplexen Fragebögen zu Problemen und Verzögerungen gekommen war. Infolge waren die Landeskirchen aufgefordert, ihre bereits bekannten Fälle sexualisierter Gewalt zu erfassen und alle Disziplinarakten sowie alle sonstigen einschlägigen Unterlagen für Pfarrpersonen zu überprüfen. Mit einer Landeskirche vereinbarten die Forschenden ein weitergehendes Screening auch von Personalakten.
Im Zuge der Veröffentlichung der Studie gab es Kritik daran, dass nicht alle Landeskirchen ihre kompletten Personalaktenbestände überprüft hätten. Wie oben erwähnt, war das aber auch nicht von den Forschenden angefordert.
Dieses PDF-Dokument enthält eine Aufstellung der wesentlichen Schritte im Verlauf des Teilprojekts E der Aufarbeitungsstudie «ForuM». Das Teilprojekt E ermittelte Kennzahlen zur Häufigkeit und Merkmale des institutionellen Umgangs mit sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche.
Hat die EKKW alle Personalakten gesichtet?
Die EKKW hat nicht systematisch sämtliche Personalakten von Pfarrpersonen, Kirchenbeamtinnen, -beamten und kirchlichen Mitarbeitenden gesichtet. Das war aber in der Projektbeschreibung auch nicht ausdrücklich gefordert. Das Forschungsdesign hat sich im Laufe des Verfahrens geändert. Es wurden letztlich mehr Akten untersucht als das neue Design vorsah.
(31.01.2024)
Linktipp:
Der gesamte Abschlussbericht der Aufarbeitungsstudie ForuM zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie, eine Zusammenfassung und weitere Informationen zum Forschungsprojekt finden sich unter:
ekkw.de-Ratgeber:
Betroffene oder deren Angehörige und Freunde können sich auf unterschiedlichen Wegen Hilfe oder Beratung holen. Im ekkw.de-Ratgeber finden Sie Informationen, Ansprechpersonen und Links.