Alles hat seine bestimmte Zeit und damit einen festen Platz in unserer Welt – so meint es der anonyme Verfasser, der hinter dem Zeitgedicht von Kohelet 3,1–9 aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts vor Christus steht. Sie fragen sich nun vielleicht, ob Kohelet damit sagen möchte, dass wir machtlos gegenüber den Geschehnissen unserer Zeit sind? Sollen wir – salopp gesagt – nur Tee trinken und abwarten, bis bessere Zeiten kommen? Bis Frieden von allein den Krieg ablöst? Ist damit gemeint, dass alles in unserem Leben vorherbestimmt sei?
Um diese Fragen zu verstehen, hilft ein Blick auf das Zeitverständnis, das Kohelet geprägt hat. Der Verfasser lebte im Kulturraum des Alten Israel und besaß somit ein anderes Verständnis von Zeit als wir heute. Während wir heutzutage Zeit meist linear in Beziehung zu uns denken – als eine gerade Linie mit dem Startpunkt Geburt und dem Endpunkt Tod – verknüpfte das Alte Israel Zeit noch zusätzlich mit Raumvorstellungen. Zeit wurde nicht nur als geradliniger Weg von A nach B, sondern auch als begrenzter Raum erlebt, durch den sich Menschen hindurchbewegen.
Diese Zeiträume lassen sich in natürliche und soziale Rhythmen unterteilen: Der natürliche Zeitraum folgt dem wiederkehrenden Wechsel von Tag und Nacht, dem Blühen und Vergehen in der Natur. Der soziale Zeitraum zeigt sich in jährlich wiederkehrenden Festen oder auch in der Abfolge von Aussaat und Ernte – Zyklen, die dem menschlichen Leben Struktur und Orientierung geben. Mit Kohelet gesprochen: «Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde» (Kohelet 3,1).

Aus der Bibel
Alles hat seine Zeit (Prediger 3, 1-15)
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.
Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.
Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.
Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll. Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Doch das bedeutet keineswegs, dass alles bereits festgelegt wäre und wir keinen Einfluss auf unser Leben hätten. Vielmehr fordert Kohelet dazu auf, den passenden Moment für das notwendige Handeln zu erkennen und zu wissen, wann es nicht der richtige Moment für ein bestimmtes Handeln ist. Das Zeitgedicht nimmt die Möglichkeit und die Begrenztheit menschlichen Lebens auf gelassene Art und Weise in den Blick, ohne dabei die einzelnen Handlungen positiv oder negativ zu bewerten.
Ein anschauliches Bild für das Zeit-Raum-Denken des Alten Israel bietet die Vorstellung von der Schöpfung als ein Grundstück, das Gott besitzt und verwaltet – mit Ausmaßen, die für uns Menschen nicht vollständig erfassbar sind. Dieses Grundstück ist durch die Ewigkeit umzäunt (Kohelet 3,10–11,14–15). Innerhalb dieses umfassenden Rahmens leben wir – Menschen, Tiere und Pflanzen – in verschiedenen (auch kulturellen) Zeiträumen zur Miete. Diese Zeiträume betreten wir mit unserer Geburt und verlassen sie mit dem Tod.

Man könnte sagen, wir leben darin in Wohngemeinschaften: mit eigenen «vier Wänden» – unserem persönlichen Leben – und mit «Gemeinschaftsräumen», die unsere Gesellschaft symbolisieren. Diese Räume machen wir für uns begreifbar, indem wir sie strukturieren, mit Bedeutung aufladen und durch wiederkehrende Abläufe gestalten. Wir bewegen uns durch diese begrenzten Räume, richten sie nach unserem Verständnis ein – mit Möbeln des Alltags, aber auch mit Handlungen, Gefühlen und Ereignissen.
Nach Kohelet gehören zu diesen «Einrichtungsgegenständen» beispielsweise das Lachen, das Streiten, das Umarmen und das Loslassen (Kohelet 3,4–8). Auch der Krieg und der Frieden haben darin ihren festen Platz. Alles hat seinen Ort in unseren Zeiträumen, damit wir wissen, wo wir das finden, was wir gerade brauchen.
Und wer schon einmal in einer WG gewohnt hat, weiß: Es kommt unweigerlich zu Konflikten – denn die Vorstellungen von Ordnung, Timing und Zusammenleben können auseinandergehen. Doch genau darin liegt auch unsere Verantwortung: Wir sind eingeladen, die Zeit nicht nur zu durchschreiten, sondern sie mitzugestalten – bewusst, achtsam und im richtigen Moment (Kohelet 3,9,12–13).

«Alles hat seine Zeit» als E-Paper
Mit Höflichkeit, Freundlichkeit und Respekt möchte ZDF-Star Horst Lichter seine Zeit füllen. Das sagte er im großen Interview mit dem aktuellen blick in die kirche-Magazin. Das Titelthema «Alles hat seine Zeit» greift ein Bibelwort aus dem Alten Testament auf – und ist dennoch hochaktuell, wie die Beiträge im Heft zeigen: Wann ist die richtige Zeit für Ehe und Kinder? Wie nutzt man die Zeit im Alter am besten? Wie prägen Jahreszeiten und Wetter den Zeitplan in der Landwirtschaft? Und welches Verhältnis zu Minuten und Sekunden hat Weltklasseläuferin Dr. Laura Hottenrott?
Diese und viele andere Fragen greift das Magazin auf. Leserinnen und Leser erfahren außerdem, was es mit dem «Stunden-Nachschlag» auf sich hat, wo mehr als 30 Turmuhrwerke ticken – und an welcher Kirche gleich sechs Sonnenuhren angebracht sind. Vorgestellt wird auch die imposante Kaufunger Stiftskirche, die genau 1.000 Jahre alt ist. Zudem gibt es ein Wiedersehen mit der Kinderbuchheldin Momo und ihrem Kampf gegen die Zeitdiebe – sowie einen vertiefenden Blick in die Bibel.
Das blick in die kirche-Magazin erscheint vierteljährlich in einer Auflage von 225.000 Exemplaren als Beilage der regionalen Tageszeitungen in Kurhessen-Waldeck. Es bietet Interviews, Reportagen, geistliche Impulse sowie Lebenshilfe und Ratgeberthemen – ergänzt durch ein beliebtes Preisrätsel.