Wann haben Sie das letzte Mal den Begriff «Dritte Welt» verwendet?
Dr. Dagmar Pruin: Ich benutze den Begriff Dritte Welt durchaus, aber dann in Anführungszeichen. Das passiert dann, wenn ich mit Menschen rede, deren Alltagsleben sehr fern von den Themen ist, über die ich oft täglich spreche. Wenn ich bei meiner Mutter in Ostfriesland zu Hause bin und Nachbarn oder Bekannte treffe, dann benutzen gerade ältere Menschen sehr oft diesen Begriff «Dritte Welt». Den greife ich dann auf und versuche zu erklären, warum wir heute eher vom «Globalen Süden» sprechen. Daran entspinnen sich dann oft gute Diskussionen.
Warum sagt man das nicht mehr?
Pruin: Der Begriff «Dritte Welt» hat lange Zeit eine Rangordnung manifestiert und stand viele Jahrzehnte für die Blockeinteilung der Welt nach der Logik des Kalten Krieges. Dutzende Länder, die vor allem in Afrika gerade erst den Kolonialismus abgeschüttelt hatten, wurden damit als politisch ziellos und gesellschaftlich tief verarmt kategorisiert. Zudem hat diese Einteilung die Wahrnehmung verstärkt, dass wir in unterschiedlichen Welten leben. Das tun wir nicht und merken es heute mehr denn je, nicht zuletzt durch die Klimakrise, die uns alle betrifft. Der heute verwendete Begriff «Globaler Süden» macht vielmehr auf die Benachteiligung aufmerksam, die viele Länder erleben und weist auf eine längst globalisierte Welt hin.
Ähnlich verhält es sich mit «Entwicklungshilfe». Warum ist das falsch?
Pruin: Weil die einstige Erste Welt der einstigen Dritten Welt nicht mehr vorgibt, in welche Richtung sie sich zu entwickeln hat. «Macht es so wie wir, dann geht es euch besser» hat keine Vorbildfunktion mehr. Vereinfacht gesagt: Der reiche Norden liefert nicht die Rezepte, die helfen, um dem Süden aus der Armut zu helfen. Dieser Ansatz hat in der Vergangenheit allzu oft nur eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen gedient, anstatt das Entwicklungs- und Gestaltungspotenzial benachteiligter Länder und Gesellschaften wirklich zu unterstützen. Dieses steht heute viel stärker im Fokus, weshalb wir von Entwicklungszusammenarbeit sprechen.
Es geht nicht nur um Worte, sondern um die Haltung. Wie hat sich der Ansatz von «Brot für die Welt» verändert?
Pruin: Wir arbeiten mit unseren Partnern auf Augenhöhe und hören viel mehr zu, sind offener für Vorschläge und Ideen von Menschen aus dem Globalen Süden. Sie bestimmen heute viel stärker unseren Kurs. Bei Brot für die Welt tauschen wir uns eng mit der sogenannten Global Reference Group aus, einem Beratungsgremium mit Vertreterinnen und Vertretern unserer Partnerorganisationen. Zudem gibt es ein Future Board, in dem vor allem junge engagierte Menschen aus dem Globalen Süden uns ihre Erfahrungen, Ideen und Vorstellungen herantragen. Es ist für uns mittlerweile undenkbar, Projekte zu planen, die nicht aus der Feder von Partnern kommen oder an denen sie nicht in großem Maße beteiligt sind.
Nicht bloße Hilfsempfänger, sondern gleichberechtigte Partner sollen die Menschen im Globalen Süden sein. Wie funktioniert das, wenn das Geld doch meist aus der westlichen Welt kommt?
Pruin: Indem man sie als gleichberechtigte Partner ernsthaft und aufrichtig anerkennt. Viel Geld, auf dem unser Wohlstand beruht, kommt ja aus dem Globalen Süden. Ein Blick auf die koloniale Vergangenheit und das heutige Rennen um Rohstoffe macht das deutlich. Deshalb müssen wir es schaffen, anders miteinander umzugehen. Kooperation, die auf Augenhöhe geschieht und nicht allein auf Ziele einer Seite einzahlt, hilft uns allen. Deshalb müssen Partner zwar nicht die alleinige, aber die größte Rolle darin spielen, wie Geld in der Entwicklungszusammenarbeit verwendet wird. Zusammenarbeit kann nicht an einseitige Bedingungen geknüpft sein. Andernfalls sind Projekte zum Scheitern verurteilt. Das haben wir, da bin ich mir sicher, bei Brot für die Welt verinnerlicht.
Was können wir vom Globalen Süden lernen?
Pruin: Sehr viel. Vor allem, dass unser eingeschlagener Weg in den reichen Ländern nicht der Leuchtturm ist, dem benachteiligte Länder folgen müssen. Der Globale Süden ist ja kein Kontinent oder eine Region, sondern es sind Länder mit ganz unterschiedlichen Entwicklungswegen, in denen enormes Potenzial steckt. Ihre Erfahrungen befruchten unsere eigene Wahrnehmung der Welt, deshalb ist der ständige Austausch auch so wichtig. Es gibt heute genügend Mittel, um miteinander zu kommunizieren und nicht mehr aneinander vorbeizureden.

Dr. Dagmar Pruin ist Leiterin des evangelischen Hilfswerks «Brot für die Welt».
«Wandel säen» ist der Titel der aktuellen Brot-für-die-Welt-Kampagne. Welchen Wandel meinen Sie damit?
Pruin: Unser Schwerpunkt war und ist die Bekämpfung des weltweiten Hungers, die seit Jahren stockt, obwohl weltweit genügend Nahrungsmittel vorhanden sind. Das liegt an einem ungerechten Ernährungs- und Verteilungssystem, aber auch an einer falschen Entwicklung in der Landwirtschaft. Die industrielle Produktion schadet zusehends der Umwelt und kleinbäuerlichen Strukturen. Was wir erreichen wollen, ist eine Umkehr zu nachhaltiger agroökologischer Landwirtschaft. Umkehr heißt dabei nicht die Rückkehr in alte Zeiten, sondern der schonende Umgang mit Ressourcen durch nachhaltige Methoden.
Geht es auch um einen Wandel bei jedem und jeder von uns?
Wo sollten wir uns verändern?
Pruin: Wir müssen uns selbst hinterfragen, welche Folgen – negativ wie positiv – unser Handeln hat. Gerade in Anbetracht der Klimakrise stehen wir alle vor grundlegenden Entscheidungen im Kleinen wie im Großen. Worauf lege ich Wert, wenn ich mich ernähre? Brauche ich das Auto, um von A nach B zu kommen? Alltägliche Fragen müssen uns beschäftigen, ohne uns als Gesellschaft zu spalten und uns selbst auf die Anklagebank zu setzen. Wandel gehört zum Menschsein dazu, bei sich selbst und im Umfeld. Wandel bestimmt unser Leben, ob wir es wollen oder nicht. Der Wandel ist keine Gefahr, sondern eine Chance, die wir mitgestalten können.
In der Weihnachtsgeschichte sind Maria und Josef auf einem beschwerlichen und ungewissen Weg. Wie sehen Sie den Weg von «Brot für die Welt»?
Pruin: Großes entsteht oft aus kleinen Anfängen. Diesen Weg sehe ich bei unserem Entwicklungswerk. Dazu fällt mir die Geschichte vom Senfkorn ein, die Jesus erzählte: Obwohl es das kleinste aller Samenkörner sei, erwächst daraus ein Baum, der allen Vögel des Himmels Platz biete, um sich darin niederzulassen. Heute arbeiten wir mit mehr als 1.600 Partnern in fast 90 Ländern zusammen Das finde ich großartig.
Lässt im Zuge der Diskussion über Migration nach Deutschland die Hilfs- und Spendenbereitschaft nach?
Pruin: Nein. Wir sehen eine kontinuierliche Unterstützung unserer Arbeit durch Kollekten und Spenden. Unsere Unterstützerinnen und Unterstützer wissen, dass wir weltweit tätig sind und die Arbeit wichtig ist, um einen Beitrag zu besseren Lebensbedingungen vieler Menschen zu schaffen. Die Debatte um Migration ist derzeit vergiftet und populistisch eingefärbt. Das erkennen viele unserer Spenderinnen und Spender und sie unterscheiden.
Brot für die Welt hat sich große Ziele gesetzt: «Für eine Zukunft ohne Hunger». Wie schaffen Sie es, angesichts von Katastrophen, Kriegen und Klimawandel nicht die Hoffnung zu verlieren?
Pruin: Wir sind als evangelisches Entwicklungswerk selbst in einer Zeit entstanden, als Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zerstört war und am Boden lag. Trotz unserer immensen Verantwortung für diesen Krieg und das Grauen der Shoah haben uns Staaten und Kirchen geholfen, nicht zu verhungern, wieder auf die Beine zu kommen und das Land aufzubauen. Das macht mich dankbar und auch demütig. Diese Erfahrung nährt für mich Hoffnung und Zuversicht, dass sich die Verhältnisse ändern können.
Damit ist der große Wunsch für die Welt beschrieben, aber was wäre Ihr ganz persönlicher Weihnachtswunsch?
Pruin: Für mich ist Weihnachten das Fest, das uns daran erinnert, dass sich Himmel und Erde berühren können. Und ein ganz persönlicher Weihnachtswunsch ist, dass mein Herz das fassen kann in den Stunden der Heiligen Nacht. An Heiligabend gibt es für mich immer einen sehr besonderen Moment, wenn wir vom Spätgottesdienst zurückkommen, mein Mann, alle Kinder und Nichten und Geschwister gesund im Bett sind und ich mit meiner Mutter noch einen ostfriesischen Kräuterlikör trinke. Ich weiß nicht, wie lange wir solche Momente als Familie noch haben werden und deshalb ist das sehr besonders.
Brot für die Welt

Das evangelische Hilfswerk «Brot für die Welt» fördert in fast 90 Ländern in aller Welt Projekte, durch die benachteiligte Menschen ihre Lebenssituation verbessern können. Auf christlicher Grundlage setzt sich das Werk für Menschenrechte, Frieden, Demokratie, Bildung, Gesundheit, den Zugang zu Wasser sowie gegen Armut und Hunger ein. Traditionell startet «Brot für die Welt» seine Spendenaktion am 1. Advent. Kollekten, die in Gottesdiensten gesammelt werden, sowie Spenden sind ein wichtiger Pfeiler der Arbeit. Im vergangenen Jahr wurden allein in Kurhessen-Waldeck 1,85 Millionen Euro für den guten Zweck gesammelt.

«Advent: Auf dem Weg» als E-Paper
Im Zeichen des Sterns steht die Adventsausgabe des «blick in die kirche magazins». Die Redaktion hat sich zeigen lassen, wie und wo die weltberühmten Herrnhuter Sterne entstehen. Sie geht der Frage nach, wie man nach den Sternen navigieren kann und unter welchen Bedingungen Maria und Josef gereist sein könnten.
Im Advent ist man nach christlichem Verständnis auf dem Weg zur Krippe. Grund genug, Menschen vorzustellen, die in ihrem Leben noch einmal ganz neue Wege eingeschlagen haben. Und wir stellen Wegbegleiter und -begleiterinnen vor, etwa in der Gehörlosenseelsorge und am Heiligen Abend in der Kasseler Karlskirche, wo ein Fest für alle gefeiert wird, die kommen möchten. Im Interview erzählt Dr. Dagmar Pruin, Präsidentin des Hilfswerks «Brot für die Welt», wie sie sich die Hoffnung auf eine bessere Welt bewahrt und was ihr persönlicher Weihnachtwunsch ist.
Das «blick in die kirche-magazin» bietet einem großen Lesepublikum viermal im Jahr ein buntes Angebot an Themen rund um Kirche und Diakonie, aber auch darüber hinaus. Jedes Heft hat ein Titelthema, das in unterschiedlichen Formen entfaltet wird. In Interviews, Reportagen, Berichten und geistlichen Texten informiert und unterhält die Redaktion die Leserinnen und Leser. Ergänzt wird das Angebot mit Ratgeber- und Lebenshilfethemen sowie dem beliebten Preisrätsel. In einer Auflage von 245.000 Exemplaren liegt das Magazin den Tageszeitungen in Kurhessen-Waldeck bei und kann online unter blickindiekirche.de als E-Paper gelesen werden.