Kinder auf der Jagd nach Pokémon-Karten, Süchtige, die das erbettelte Kleingeld wechseln wollen, Katheter-Patienten aus dem Krankenhaus, die das Essen dort nicht mögen, Monteure aus dem Hotel, denen etwas Süßes fehlt – sie alle und viele andere kommen im Kiosk bei Aliya Caliskan in Hanau vorbei.
Es ist früher Abend an diesem grauen Tag, die Sonne ist längst müde geworden. Durch die Hirschstraße unweit des Marktplatzes quält sich noch der Berufsverkehr. In den Läden, die die Straße säumen, brennen schon die Lichter. So wie bei Aliya, bei der es auf wenigen Quadratmetern alles mögliche gibt: blaue Kartoffelchips, Fußballkarten, guten Kaffee, Zigaretten, glutenfreie Lollies, Getränke aus Chia-Samen und Popcorn made in Rüsselsheim – aber auch ganz schlicht Cola, Milch und Wasser.
Eines gibt es in «Aliyas Kiosk» nicht: Alkohol. Das ist ihr als Muslimin wichtig. Es sei aber auch Bedingung des Vermieters gewesen, erzählt die 20-Jährige, denn früher habe es Probleme mit betrunkenen Jugendlichen vor dem Laden gegeben, die aggressiv wurden. Lachgas verkauft sie übrigens auch nicht, zu oft sehe sie in letzter Zeit Menschen, die abhängig davon sind.
Wer doch ein Bier möchte, wird zwei Läden weiter bei Dani Semereab fündig, der orthodoxer Christ ist. Manchmal gebe es Schwierigkeiten mit Alkoholikern, räumt er ein. Doch der Mann hinter dem Tresen bleibe, wie ihm ein Kunde beim Feierabendbier bescheinigt, «gechillt und freundlich». Es kämen, sagt Semereab, «Gute und Böse» in den Kiosk. So ist die Welt.

Der Berufsverkehr ist abgeschwollen, die Sonne hat Feierabend; das Leben in der Hirschstraße geht weiter. «Nachts sind die Leute besser drauf», beobachtet Aliya Caliskan – besonders im Sommer, wenn es warm und länger hell ist. Das findet auch Kadir Kilic vom benachbarten Handyladen «Foncompany», der gerne mal eine vor dem Kiosk raucht und plaudert.
Überhaupt gehört der Austausch zwischen den Läden dazu. Irgendwann taucht Dani Semereab in Aliyas Kiosk auf, weil er Schwierigkeiten mit der App für die Paketannahme hat – und bekommt selbstverständlich Hilfe.
Die Schichten im Kiosk teilt sich Aliya Caliskan derzeit mit ihrer jüngeren Schwester Asya. Anfangs gab es in ihrer Familie Bedenken, wenn die jungen Frauen spätabends noch im Kiosk stehen. Und manchmal kämen auch komische Typen vorbei, aber das sei die Ausnahme. Wichtig ist, so sagt sie: «Wir behandeln jeden, der hier reinkommt, mit Respekt.»
Doch seit fünf Jahren liegt ein Schatten über Hanau, besonders für Menschen mit ausländischen Wurzeln. Aliya Caliskan kennt Menschen, die dem Terroristen zum Opfer fielen, der am 19. Februar 2020 zehn Menschen ermordete. Der Terror kam in der Nacht. Der erste Tatort, Aliya hatte dort sogar mal probegearbeitet, liegt keine zehn Gehminuten von der Hirschstraße entfernt. «Man muss für jeden Atemzug dankbar sein», sagt einer im Kiosk.
Umso mehr setzen sie in der Straße auf Gemeinschaft. «Ich kenne die Leute vom Friseur, vom Handy- und vom Dönerladen», sagt die 20-Jährige. Viele Kunden werden namentlich begrüßt. Und manchmal gibt es neue Bekanntschaften. So wie um Weihnachten, als immer wieder die Mutter und der Bruder eines zwölfjährigen Mädchens in den Kiosk kamen, um Süßigkeiten und scharfe, blaue Chips zu kaufen. Das Mädchen, so erzählten sie, lag im nahen Krankenhaus und musste fünf Operationen über sich ergehen lassen. Manchmal kann so ein Kiosk sogar eine «Schulter zum Ausheulen» bieten. Irgendwann standen Mutter und Sohn wieder im Laden; diesmal mit der Tochter, die alles überstanden hatte. Sie wollten Danke sagen und sich verabschieden.
Abschied genommen hat auch Alazar Kidane, von seinem alten Leben als Friseur. Heute betreibt er das Restaurant Zebib um die Ecke vom Kiosk und serviert äthiopische Köstlichkeiten auf Sauerteig-Fladenbrot. Die Gäste seien am Abend ruhiger, findet er: «Die Menschen wollen mal vom Stress und von der Arbeit befreit werden.»
Er selbst muss sich erst daran gewöhnen, bis 23 Uhr zu kochen und zu servieren. Als Friseur hatte er früher Schluss. Die Nachmittage, an denen er mit seinen drei Kindern spielen konnte, vermisst er. Alazar Kidane ist kein Nachtmensch.
Die Sonne ist längst im Tiefschlaf, nur noch wenige Autos sind zu sehen. Vor Dani Semereabs Kiosk stehen jetzt mehr Leute, obwohl es in diesen Tagen noch kalt ist. Das wird sich bald ändern. «Im Sommer ist mehr Lebensfreude», sagt Aliya Caliskan.
An diesem grauen Tag ist von Lebensfreude wenig zu spüren; langsam wird es ruhiger in der Hirschstraße. Wenn man nach oben schaut, erkennt man hinter dem grauen Schleier den Mond. Blass und klein.

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