Es ist ein beinahe wie bei der Maus Frederick aus dem Bilderbuch, die für den grauen Winter Farben und Sonnenstrahlen sammelt. Joachim Heß sammelt tagsüber Gespräche und Begegnungen für die Nächte, in denen er keine Gesellschaft hat. Am Tag ist der 70-Jährige in Marburg unterwegs, hält Kontakt zu Geschäftsleuten und in der Tagesaufenthaltsstätte des Diakonischen Werks. Die Nacht verbringt er in seinem alten Wohnmobil, das etliche Kilometer außerhalb der Universitätsstadt steht. Der letzte Bus aus Marburg dorthin geht um 20.40 Uhr.
Joachim Heß ist ein ausgesucht höflicher Mensch und ein interessanter Gesprächspartner. Einst erfolgreicher Geschäftsmann, heute ohne feste Wohnung. «Ich habe viele Höhen erlebt», sagt er, «und bin in ein tiefes Loch gefallen.» Passieren könne so etwas jedem.
Der Traum ging in Flammen auf
Heß, so erzählt er, hatte einst einen gut laufenden Großhandel für Garne, ein eigenes Haus, eine Familie. Geschäfte in Marburg und Gießen, später – als es mit den Garnen schwieriger wurde – Modeboutiquen. Trennung, finanzieller «Totalverlust», die jahrelange Pflege der Mutter bis zu ihrem Tod, das ist Heß‘ Geschichte in viel zu knappen Stichworten.
Es gibt etwas, was Heß nicht aufgeben lässt und dafür sorgt, dass er nicht zu den «Verlorenen» gehört. So nennt er jene Obdachlosen, die morgens ohne eine Perspektive aufwachen, die vielleicht auch suchtkrank sind, die aufgegeben haben. Vor einigen Jahren hat der Geschäftsmann einen Designer-Tisch entworfen, den «Turntable»: dreh- und schwenkbar, extrem präzise gearbeitet, langlebig und nachhaltig – mit Nanotechnologie. Auf Heß' Homepage findet man ein Bild von der Vorstellung des Produkts, als Balletttänzerinnen darauf tanzten, um die Stabilität zu demonstrieren.
Er sei zu Designmessen in Dubai und Paris eingeladen gewesen, erzählt Heß. Es gab einen ambitionierten Businessplan. Doch dann ging der Traum wortwörtlich in Flammen auf, es gab es einen Brand im Geschäft mit den Prototypen. Seitdem bemüht er sich, das Projekt neu zu starten. Dafür braucht es einen Kredit. Kaum möglich, wenn es eine – laut Heß unrechtmäßige – Kontopfändung gab. Ein Teil seiner Geschichte ist auch der Kampf mit Behörden und Institutionen, vor Gerichten und in der Politik. Der Sozialstaat versage bei Obdach- und Wohnungslosen, findet Heß.

Unterkunft: Das Wohnmobil von Joachim Heß steht an einer Scheune
Alexander Becker kennt solche Probleme, er ist Sozialarbeiter der «Fachberatung Wohnen» beim Diakonischen Werk (DW). Unter anderem betreibt das DW die Tagesstätte in Marburg, wo Menschen duschen können, wo es Essen und Trinken, Waschmaschine und Trockner gibt, Hilfe und Beratung – und Gesellschaft.
Ein wichtiger Baustein ist die Beratung, um Menschen – wo möglich – wieder in Wohnungen unterzubringen. Oder noch besser, im Vorfeld zu verhindern, dass jemand seine Wohnung verliert. Oft sei das möglich. Wie viele Wohnungs- und Obdachlose es gebe, sei schwer abzuschätzen, sagt Becker, die Dunkelziffer sei hoch.
Für die, die auf der Straße leben, sei die Lage besonders schwierig. Immer zu überlegen, wie es weitergeht, das sei hart, weiß Becker: «Jeder Tag ist ein neuer Kampf.» Nachts blieben manche die ganze Zeit aus Angst vor Diebstählen und Überfällen wach. In der Tagesstätte finden sie einen Raum, um einfach mal zu ruhen.
Dieses Problem hat Joachim Heß immerhin nicht, doch in den Nächten weitab der Gesellschaft fühlt er sich sozial isoliert. Aufrecht hält ihn sein Projekt Turntables, an das er fest glaubt. Und die Gespräche und Begegnungen, die er tagsüber sammelt.
Homepage von Joachim Heß: www.sft-turntables.com
Beratungsangebote: www.diakonie.de

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