Burkhard zur Nieden ist als Prälat der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck geistlicher Stellvertreter der Bischöfin sowie Vorgesetzter aller Pfarrerinnen und Pfarrer. Im Interview spricht er über das Engagement gegen sexualisierte Gewalt und über theologische Fehlschlüsse bei dem Thema.
In der Passionszeit blicken wir auf das Dunkle, Böse im Menschen. Gehört sexualisierte Gewalt dazu?
Burkhard zur Nieden: Offensichtlich ja. Der Kern des christlichen Glaubens ist die Urerfahrung von Gewalt und die Fassungslosigkeit, vor dem Kreuz zu stehen und das Leid zu sehen. Mit Ostern verbunden gibt es alle möglichen Deutungsmodelle. Diese Modelle verstummen aber angesichts der Erfahrungen, die Betroffene von sexualisierter Gewalt gemacht haben.
Es haben noch nicht alle verstanden, dass sexualisierte Gewalt vor allem Gewalt ist. Manche denken immer noch, es ginge irgendwie um Erotik. Es ist aber Gewalt, Macht, Dominanz, die sich der Form der Sexualität bedient. Für mich ist die Verbindung zur Passionsgeschichte, dass Jesus gelitten hat und getötet wurde.
Wie sehr hat Sie erschüttert, was wir bisher über sexualisierte Gewalt in unserer Landeskirche wissen?
zur Nieden: Die Forum-Studie (große Studie über sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland, 2024 veröffentlicht, Anm. d. Red.) hat mich leider Gottes nicht erschüttert. Schon durch die Vorarbeit für die Studie wusste ich, dass es auch bei uns sexualisierte Gewalt in unterschiedlichen Formen und Frömmigkeitsspektren gibt, ob konservativ oder progressiv. Das ist sehr traurig.
Vergebung ist zentral für den Glauben. Gilt sie auch für solche Taten?
zur Nieden: Wir haben die Vorstellung vom Jüngsten Gericht, das ist eine Sache zwischen Gott und den Menschen. Die Frage der Vergebung oder der Nichtvergebung, auch für Gewalt, sehe ich dort aufgehoben. Manchmal haben Beschuldigte oder Täter an uns die Erwartung, wir oder gar Betroffene müssten vergeben. Das ist ein unzulässiger theologischer Kurzschluss.
Warum fällt es Betroffenen so schwer, über Erlittenes zu sprechen?
zur Nieden: Ich kann jedenfalls gut verstehen, warum Betroffene nicht gerade mit mir sprechen wollen. Ich bin Vertreter der Organisation, die versagt hat. Die Taten verletzen den persönlichsten Bereich. Da gibt es Angst, dass einem nicht geglaubt wird, die Befürchtung, Schuld zugeschoben zu bekommen, die Scham, dass man sich nicht wehren konnte.
Täter waren oft angesehene, charismatische, ausstrahlungsreiche, kommunikative, erfolgreiche Kollegen – und man hat das entweder nicht sehen wollen oder es sogar – noch schlimmer – in Kauf genommen, weil man nicht spießig sein wollte.
Macht das Bild, das die Kirche von sich selber und von ihren Amtspersonen hat, die Aufklärung schwierig?
zur Nieden: Bis vor gar nicht langer Zeit haben wir uns für die bessere Konfession gehalten. Wir haben uns für die modernere Kirche gehalten, für die Liberaleren. Sexualisierte Gewalt hat mit Macht zu tun und wir haben lange gedacht: Wir haben ja keine Priester und keine hierarchische Gewalt.
Es ist viel zu wenig reflektiert worden, was es für eminente, informelle Macht gibt und was für Macht, die mit charismatischer Ausstrahlung zu tun hat. Diese Macht will Menschen in eine emotionale Abhängigkeit bringen. Wir haben solche Züge noch für erfolgreich gehalten, weil es fürs Evangelium gut sei und weil es Menschen in die Kirche bringe. Das war fatal.
Man hört manchmal Stimmen, die sagen: Es ist jetzt mal genug mit dem Thema. Ist es genug?
zur Nieden: Ich kann verstehen, dass Leute genervt sind. Und ich vermute, dass man mit dem Thema bei säkularen Medien gegenwärtig auch nicht viel Aufmerksamkeit bekommen kann, weil man uns als Kirche inzwischen sowieso alles mögliche Schlechte zutraut. Da verpasst die Gesellschaft aber etwas. Die Gewalt im Bereich von Kirche und unsere Haltung, das Leid der Betroffenen in den Fokus zu rücken, könnte ein Anlass sein, dass auch andere gesellschaftliche Systeme sich selbst prüfen. Das geschieht wenig.
Wer selbst von sexualisierter Gewalt betroffen ist oder war beziehungsweise in seiner Umgebung davon erfahren hat oder einen Verdacht hegt, findet viele Ansprechstellen – in der Kirche und unabhängig von ihr.
Das staatliche Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch ist telefonisch und online erreichbar (anonym und kostenlos). Tel. 0800 22 55 530 www.hilfe-portal-missbrauch.de
Die Zentrale Anlaufstelle help (demnächst unter dem Namen „KuBuS“) berät Betroffene aus Kirche und Diakonie, ist aber von beiden unabhängig. www.anlaufstelle.help
Die Fachstelle zum Umgang mit sexualisierter Gewalt der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck wird von Sabine Kresse geleitet: Tel. 0561/9378 404, Mail: praevention@ekkw.de
Die Landeskirche hat eine unabhängige Anerkennungskommission eingesetzt, die berät und klärt, ob ein Fall juristisch verfolgt werden kann. Sie kann auch psychologische Unterstützung und finanzielle Anerkennungsleistungen initiieren. Kontakt: anerkennungskommission@ekkw.de
Viele weitere Ansprechstellen und Infos: www.ekkw.de/sexualisierte-gewalt
Und in der Kirche?
zur Nieden: Das Thema ist nicht durch, weil das Leid der Betroffenen nicht durch ist. Es dauert im Durchschnitt Jahrzehnte, bis Betroffene so stark geworden sind, dass sie sagen: Mir ist damals Unrecht widerfahren. Oft arbeiten wir jetzt Fälle auf, die Jahrzehnte zurückliegen. Wir werden noch lange mit dem Leid von Betroffenen konfrontiert sein, selbst wenn von jetzt an nichts mehr passieren würde. Darum bemühen wir uns natürlich, aber ganz sicher sein können wir nicht.
Was hat die Landeskirche bisher unternommen?
zur Nieden: Wir fahren mehrgleisig. Wir sind es Betroffenen schuldig, ihr Leid anzusehen und aufzuarbeiten. Dazu gehört zunächst die Ahndung von Taten. Wenn Betroffene bereit sind mitzuwirken und die Taten nicht verjährt sind, kann es zu einem strafrechtlichen Verfahren kommen. Zusätzlich greift ein Disziplinarverfahren. Das erfolgt nach hohen rechtlichen Standards. Wir sind da auf Augenhöhe mit staatlichen Verfahren. Das Disziplinarrecht kennt im Gegensatz zum Strafrecht übrigens keine Verjährung.
Was gibt es noch?
zur Nieden: Unabhängig davon ist der Bereich der Anerkennung, auch durch finanzielle Leistungen. Betroffene können in Kontakt mit der Fachstelle für den Umgang mit sexualisierter Gewalt treten. Daraus kann ein Fall für die Unabhängige Anerkennungskommission werden.
Dann gibt es noch den Blick in die Vergangenheit.
zur Nieden: Die Aufarbeitung ist sehr anspruchsvoll. Wenn wir zum Beispiel Hinweise auf sexualisierte Gewalt im Umfeld einer Person vor längerer Zeit haben und mögliche weitere Betroffene suchen wollen, müssten wir eigentlich ein Strafverfahren abwarten, um rechtlich auf der sicheren Seite zu sein. Darüber könnte man dann informieren, und es wäre immer noch schwierig, weil auch Beschuldigte Rechte haben. Wir sind in einem Dilemma, sollten aber Ermessensspielräume ausschöpfen und im Zweifel offensiv kommunizieren. Aus der Aufarbeitung zurückliegender Fälle lernen wir auch für die Prävention.
Also für die Vorbeugung von Taten.
zur Nieden: Wir haben inzwischen Tausende von Haupt- und Ehrenamtlichen geschult. Es gibt eine Gruppe von Multiplikatoren und Multiplikatorinnen, die mit einer hohen Kompetenz und Sensibilität Menschen in allen Arbeitsbereichen schulen. Wir haben das Ziel, dass kirchliche Handlungsfelder «Safe Spaces» werden, geschützte Räume. Das Vertrauen, von dem wir ursprünglich dachten, es sei berechtigt, muss künftig tatsächlich begründet sein.
Ein Blick nach vorne: Was muss noch getan werden?
zur Nieden: Wir müssen das Thema über die Zeit bringen und wir müssen permanent dazulernen. Kirche sind wir nur, wenn wir die Gewalterfahrung, die aus uns hervorgegangen ist, in Erinnerung halten und lernend damit leben. Ich bin auch neugierig, wie sich die gesamtgesellschaftliche Debatte entwickelt und ob es bei der Fehlannahme bleibt, man könnte das Thema im Grunde bei der Kirche ganz gut parken.
Und außerdem?
zur Nieden: Wir müssen unsere kirchliche Kultur in Teilen auf eine völlig neue Bahn stellen. Ein Beispiel: Wir haben immer noch kirchliche Unterbringungsmöglichkeiten, wo es ganz selbstverständlich gemeinsame Toiletten und Duschen gibt.
Wir wollen in diesem Heft auch darauf blicken, was hinter dem Dunkel liegt. Kann das bei sexualisierter Gewalt auch gelingen?
zur Nieden: Für mich ist die Ohnmachtserfahrung Jesu am Kreuz bedeutsam; die Einsicht, dass Gott an der Seite der Armen und derer steht, die Gewalt erleiden und unterdrückt sind. Er stirbt ihre Tode mit und erleidet ihr Leid mit. Dahinter steht – am dritten Tag – die Auferstehung. Das ist aber ein Wunder Gottes; darüber verfüge ich nicht.

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Das blick in die kirche-Magazin erscheint vierteljährlich in einer Auflage von 225.000 Exemplaren als Beilage der regionalen Tageszeitungen in Kurhessen-Waldeck. Es bietet Interviews, Reportagen, geistliche Impulse sowie Lebenshilfe und Ratgeberthemen – ergänzt durch ein beliebtes Preisrätsel.