Said Etris Hashemi im blick-Interview über Erinnerung und Gedenken nach dem Anschlag in Hanau im Jahr 2020.
Wie war dein Bruder Nesar?
Said Etris Hashemi: Er war ein hilfsbereiter Mensch, der immer für Familie und Freunde da war. Vor allem für die kleinen Brüder hat er extrem viel getan.
Hast du eine Jenseitsvorstellung, also, wo dein Bruder jetzt ist?
Hashemi: Ja.
Kannst du sie beschreiben?
Hashemi: Ich bin muslimisch aufgewachsen und ich glaube an ein Leben nach dem Tod. In unserem Glauben sagt man: Wenn man durch eine Gewalttat stirbt, ist man Shahîd; das heißt, man kommt durch diese Umstände direkt ins Paradies.
Wir glauben auch daran, dass Nesars Tod Schicksal war und passieren sollte. Mein Vater sagt immer, egal an welchem Ort er gewesen wäre, auch wenn er im Bett gelegen hätte, hätte ihn die Kugel irgendwie getroffen. Weil es so geschrieben war.
Als Nesars Beerdigung war, lagst du noch im Krankenhaus und hast dich rausgeschlichen. Das war dir offenbar sehr wichtig.
Hashemi: Es hat extrem lange gedauert, bis es überhaupt zur Beerdigung kam. Die Leichen waren beschlagnahmt und die Angehörigen wussten teilweise wochenlang nicht, wo sie sich befinden. Das war eine schwierige Zeit. Aber als sie freigegeben waren und der Termin für die Beerdigung feststand, war für mich klar: Egal wie und egal, was ich tun muss, ich will dabei sein.
Sicher auch, um bei deiner Familie zu sein.
Hashemi: Ja. Aber ich muss sagen, dass ich nicht wirklich Zeit für mich und die Familie hatte. Es war so extrem viel los, dass man keine Ruhe gefunden hat.
Im Islam soll die Bestattung innerhalb eines Tages sein. Das ging aber wegen der Beschlagnahmung nicht. Wie seid ihr damit zurechtgekommen?
Hashemi: Uns waren die Hände gebunden. Da ist bei den Menschen etwas zurückgeblieben, es waren ja viele Muslime unter den Opfern. Als die Leichname freigegeben waren, haben wir sie so schnell wie möglich beerdigt.
Zur Person
Etris Said Hashemi (28) aus Hanau studiert Politikwissenschaften in Frankfurt am Main. Zu seinen Hobbys zählt er Sport, darunter Boxen und Motorradfahren. Im evangelischen Jugendzentrum in Kesselstadt war er auch als Schwimmlehrer tätig. Seine Familie stammt aus Afghanistan. Die rechtsradikalen Anschläge in Hanau am 19. Februar 2020 überlebte er mit schwersten Verletzungen und lag danach lange im Krankenhaus. Sein Bruder Nesar wurde ebenso ermordet wie Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Der Täter erschoss seine Mutter und sich selbst.
Mehr zur Initiative: www.19feb-hanau.org
Das evangelische Jugendzentrum (JUZ) in Hanau-Kesselstadt wäre ein Ort gewesen, an dem junge Leute gemeinsam hätten trauern können. Dann kam Corona. Wie hast du das erlebt?
Hashemi: Das JUZ ist ein zentraler Ort für die Jugendlichen. Meine ganze Kindheit und Jugend hat sich in diesem Haus abgespielt. Und es stimmt: Damals, als das frisch passiert ist, kam Corona und das JUZ war geschlossen. Alles war geschlossen. Man konnte nirgendwo hin, aber die Menschen brauchten einen Ort, um sich zu treffen, um zu sprechen, um damit klarzukommen, was passiert ist.
Was habt ihr gemacht?
Hashemi: Die meisten Freunde, die meisten Kesselstädter standen wochenlang von morgens bis abends vor der Arena-Bar, wo es passiert ist. Sie haben einfach da gestanden und nachgedacht. Dann kam Corona und dann gab es teilweise drei, vier Razzien am Tag. Leute wurden sogar in Handschellen genommen und es wurden Strafen verteilt.
Wegen der Corona-Auflagen?
Hashemi: Ja, weil sie sich trotzdem getroffen haben. Sie haben einen Ort gebraucht, um sich zu treffen und zu reden.
Es gab nicht viele Möglichkeiten für Treffen …
Hashemi: Es war einfach nicht möglich, aber die Leute haben sich trotzdem getroffen, oft auch am JUZ oder an der Kirche. Du musstest immer damit rechnen, dass du vor der Polizei weglaufen musstest.
Also war das Bedürfnis groß, miteinander zu sprechen.
Hashemi: Die Menschen haben sich das nicht nehmen lassen. Ich hatte irgendwann die Nase voll von diesem Katz-und-Maus-Spiel. Wir haben dann Briefe an die Stadt und an die Polizei geschrieben. Dann ist es ein bisschen ruhiger geworden. Das war die Problematik, mit der wir neben der Trauer auch zu kämpfen hatten.
Mein Eindruck ist, dass es in Kesselstadt einen großen Zusammenhalt gibt. Hat sich das in dieser Ausnahmesituation bewährt?
Hashemi: Hanau ist generell ein kleiner Ort. Jeder kennt jeden. Und Kesselstadt ist noch mal eine Familie für sich. Als die Sache passiert ist, sind die Menschen noch mehr zusammengerückt. Jeder war irgendwie betroffen, jeder hat mitgefühlt und jeder hat jemanden verloren an diesem Tag.
Eure Erinnerung ist auch politisch. Inwiefern?
Hashemi: Die komplizierte Frage in der Erinnerungspolitik ist: Wie erinnert man richtig? Ich glaube, darauf gibt es keine richtige Antwort, denn jeder Mensch erinnert auf seine Art und Weise.
Bei uns war es so, dass wir schon sehr früh die Namen der Opfer betont haben. Es war das erste Mal bei einem Anschlag in Europa, dass nicht der Täter im Vordergrund stand, sondern dass über die Menschen gesprochen wurde, die gestorben sind. Ein Jahr lang sind wir hinter den Medien hergerannt, damit sie die Namen überhaupt richtig schreiben. Wir haben den Hashtag #saytheirnames (deutsch: »Sagt ihre Namen«) aufgegriffen und stark gemacht. Das hat sich etabliert.
Wo immer wir sind, sagen wir die Namen. Die wenigsten kennen tatsächlich den Namen des Täters, was gut so ist. Es gibt bundesweit viele Gedenkveranstaltungen, nicht nur an Jahrestagen. Hier in Hanau erinnern wir monatlich an den Gedenk-Orten.
Siehst du es als eine Art Auftrag der Verstorbenen, die Erinnerung wachzuhalten und politische Forderungen damit zu verbinden?
Hashemi: Ich kann mich gut an eine Fernsehsendung mit Markus Lanz erinnern, zu der meine Schwester Saida und ich eingeladen waren. Da hat Lanz gesagt, es seien »sinnlose Tode« gewesen. Das Wort »sinnlos« hat mich gestört und ich habe mir gedacht, dann müssen wir dem Tod einen Sinn verleihen. Das ist die Erinnerungspolitik, die wir machen. Und das sind die politischen Forderungen, die wir haben. Wir wollen, dass dieser Tod etwas bewirkt und eine positive Veränderung in diesem Land bringt.
Zu der politischen Seite gehört der Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag. Mit dem Abschlussbericht seid ihr nicht zufrieden.
Hashemi: Nicht wirklich. Wir hatten vier Forderungen: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen. Aufklärung ist dabei einer der größten Punkte. Es war schon ein Kampf, diesen Untersuchungsausschuss überhaupt zu bekommen. Wir haben ihn dann genau beobachtet. Irgendwann ist der Ausschuss zu einer politischen Schlammschlacht geworden. Alle haben die Schuld hin- und hergeschoben. Es ist klar, dass Fehler passiert sind, aber bis heute hat niemand dafür Verantwortung übernommen. Das kritisieren wir.
«Erinnern heißt verändern», sagt ihr. Was muss sich vor allem ändern?
Hashemi: Das Wichtigste ist, dass es nicht mehr so viel Hass, so viel Spaltung gibt. Innenpolitisch wird gerade extrem viel gespalten. Es bilden sich Fronten links und rechts und es gibt gefühlt gar keine Mitte mehr. Vor allem die Politik gießt immer mehr Öl ins Feuer. Es fehlt jemand, der das alles glättet und versucht, zu schlichten und aufeinander zuzugehen.
Das ist die politische Ebene. Was kann jede und jeder Einzelne tun?
Hashemi: Wir möchten, dass die Menschen uns unterstützen und Solidarität zeigen, dass sie erinnern – egal in welcher Art und Weise. Und dass sie vor allem unsere Forderungen in Richtung Politik weitertragen. Wir haben nicht die Lösung für alle Probleme hier in Deutschland, aber wir können versuchen, einen Ball ins Rollen zu bringen.
Buchtipp
In seinem berührenden Buch „Der Tag, an dem ich sterben sollte“ (Hoffmann und Campe) beschreibt Said Etris Hashemi die Mordanschläge in Hanau, die Zeit danach und die für ihn so ernüchternden Stunden, die er dem Untersuchungsausschuss zuhörte. Der Sohn afghanischer Eltern erzählt von seinem Bruder, seiner Familie und vom Aufwachsen in Hanau-Kesselstadt, von Armut und Rassismus. Ein eindrucksvolles, wichtiges Buch.
Magazin als e-Paper
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