blick in die kirche / Dr. Stefanie Schardien
Veröffentlicht 04 Okt 2024

Wenn ich dem Erinnern auf die Spur kommen will, dann bin ich als Christin in gewisser Weise Expertin. Oder vorbelastet – wie Sie wollen. Denn sich zu erinnern, ist so eine Art täglich Brot im Glauben. Die ganze Bibel lässt sich wie ein einziges «Vergissmeinnicht» lesen. Erinnerungen an Erfahrungen mit Gott. Seit vielen Jahrhunderten geben wir sie in der Kirche weiter und in der Kunst und Musik. Mit all dem erinnern wir uns daran, dass Gott uns nicht vergisst.

Erinnern reicht nicht? Ich merke schon beim ersten Nachdenken: Ohne solche Erinnerungen wäre mir aber zumindest ein riesiges Stück Boden unter den Füßen weggezogen. Das, was ich glaube und was ich hoffe, hätte keine Wurzeln. Wurzeln, die meinem Leben Halt geben und aus denen ich Kraft ziehe. Gerade für diese dunklen Zeiten.

Leben aus der Erinnerung

Dass Erinnerungen viel mehr sind als blanke Informationen, die irgendwo in den Windungen des Gehirns abgespeichert werden: diese Erfahrung macht man längst nicht nur im Glauben. Wie ein riesiger Schatz ist so viel an Erlebtem gespeichert in mir. Manches liegt oben auf, manches tiefer vergraben. Einiges kann ganz verschütt gehen. Oder wie es der Dichter Kurt Marti im Rückblick auf das Leben gesagt hat: «Am Anfang war die Zukunft. Dann häuften sich Erinnerungen. Am Ende räumt das Vergessen auf.»

Auf manches muss ich also ganz bewusst achtgeben, wenn ich es auf keinen Fall vergessen will. Umgekehrt bin ich überrascht, welche Erinnerungen plötzlich mit riesiger Wucht nach oben spülen können. Wie sie Gefühle, kleine Szenen, wie sie Gerüche oder Geräusche mit sich bringen. Am stärksten ist das so, wenn die Erinnerungen ganz unerwartet auftauchen und ohne Vorwarnung.

Bei mir reicht zum Beispiel manchmal der Duft von heißem Kakao aus. Unser Geruchssinn sitzt ja am tiefsten, funktioniert am unmittelbarsten beim Erinnern. Also: Kakaoduft und schon ist alles wieder da: Wie ich als Viertklässlerin auf meiner ersten Klassenfahrt nach Norderney morgens in den Speisesaal gehe: Kakao-Frühstücksduft, Kindergeschnatter, und schon spüre ich fast wieder wie damals diese kribbelige Aufregung, weil ich das erste Mal eine ganze Woche allein fern von daheim war.

Musik hat ähnliche Effekte: Viele Erinnerungen haben ihre Klänge: Omas Schallplatten. Dazu gehört übrigens sofort das Gefühl, wie man ganz vorsichtig die Nadel in die richtige Rille auf der Platte hinunterlassen musste. Es gibt in meiner Erinnerung einen Soundtrack zur ersten Liebe: dieses Mixtape mit selbstgebastelter Hülle. Eine Kassette mit Liedern, die jemand nur für mich zusammengestellt hatte. Wenn ich heute mal eins davon im Radio höre, lässt mich das lächeln.

So geht es schier unendlich weiter mit Orten, Menschen, Geräuschen, Gefühlen. Ewig her, doch dann leuchten plötzlich die kleinsten Details ganz klar auf, manchmal wild durcheinander: Von Omas Schallplatten komme ich darauf, wie sich ihre Hände angefühlt haben, wie ihr Lachen geklungen hat, welchen Mantel sie für meine Puppe gestrickt hat und ihr immer gleiches Parfum bis zur letzten Umarmung. Alles verschmilzt mit vielen Gefühlen. Solche Erinnerungen sind keine bloßen Fakten, kalt abgespeichert. Nein, all das nimmt mich mit, berührt mich. Heiße Erinnerungen.

Eine Freundin erlebt das gerade besonders intensiv. Nach dem Tod ihrer Mutter räumt sie die Wohnung aus. Möbel, Fotoalben, ihre letzten Kleider, zerlesene Bücher, aufgehobene Zeitungsartikel. Vieles davon kann sie nicht einfach weggeben oder wegwerfen. So viele Erinnerungen, heiße Erinnerungen. Daran hängt ihr eigenes Leben.

Bittersüß fühlt sich solches Erinnern an. Voller Wehmut: alles lang her, vorbei, vergangen. Das kommt niemals so wieder. Und zugleich voller Dankbarkeit und Glück: Ich lebe aus diesen Erinnerungen heraus. Aus einigen mehr, aus anderen weniger. Doch in dieser riesigen Fülle haben sie mich eben zu dem gemacht, was und wer ich bin, was mir wichtig ist und worauf ich hoffe. Erinnern ist nicht alles, aber was es in mir hervorrufen kann, das ist schon ein ziemliches Wunder.

Und schmerzhafte Erinnerungen?

Wohin aber mit dunklen Erfahrungen oder traurigen Erlebnissen? Auch die Erinnerungen daran haben oft eine große Macht im Leben. Menschen, die Furchtbares durchgemacht haben, können davon erzählen. Als ich mit Senioren über die Nachkriegszeit gesprochen habe, kam so viel davon hoch: Von der Kälte und der Furcht auf der Flucht. Von diesem unfassbaren Hunger und wie die Schwester unterwegs dann schlicht vor Schwäche gestorben ist. Die Erinnerungen suchen sie heim, bescheren ihnen manchmal bis heute schlaflose Nächte. Der eigentlich alte Schmerz schüttelt sie immer wieder durch.Was hilft? Der Versuch zu vergessen? Oder die Erinnerungen wieder und wieder hervorzuholen, anderen davon zu erzählen?

Damit nicht mehr der erinnerte Schmerz Macht über die Leidenden und Verletzten hat, sondern sie Macht über den Schmerz gewinnen. Weil das erlebte Unheil seinen Platz in aller Öffentlichkeit zugewiesen bekommt: Und zwar dort, wo es heißt: Vergessen verboten – damit es nie wieder geschieht. Solches Erinnern zieht das Erlebte weit aus der Vergangenheit hinaus. Es reicht – bis in die Zukunft hinein.

Jesuserinnerungen als Kraft für Leben und Tod

Erinnern reicht nicht. Das stimmt, wenn es nichts austrägt für das, was jetzt ist und was kommt. Aber ein Erinnern, das unsere Zukunft prägt und verändert, das ist kräftig und lebendig. Es ist sogar gefährlich, so habe ich es beim Theologen Johann Baptist Metz gelernt. Er hatte dabei unsere christlichen Erinnerungen vor Augen. Die sind gefährlich, weil sie uns heute und morgen immer sofort infrage stellen, sobald wir die Schwachen und Leidenden aus den Augen verlieren. Denn was erinnere ich von Jesus, was mich nicht loslässt? Wie er sich so konsequent auf die Seite aller Menschen gestellt hat, die ohnmächtig waren – also ohne Macht, weil sie krank waren oder arm, geringgeschätzt. Vergesst sie nicht, denn denen gehört Gottes Zukunft.

Und wenn ich Kerzen für die Verstorbenen und die Erkrankten anzünde, verbindet sich damit für mich auch die Erinnerung daran: Gott ist in Jesus eben nicht über Leiden und Tod hinweggegangen, sondern mitten hinein, mit allen Hand in Hand, die das erleben. Und hindurch, denn am Ende war der Stein weggerollt und das Grab leer. Diese Erinnerung prägt wohl meine und die Zukunft aller am meisten, weil sie alle von uns betrifft: Nein, der Tod ist damals nicht abgeschafft worden, aber besiegt vom Leben. Das ist für mich und für uns alle, die wir sterben, die erinnerte und versprochene Zukunft.

Pfarrerin Dr. Stefanie Schardien

Zur Person

Pfarrerin Dr. Stefanie Schardien ist Theologische Geschäftsführerin des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik. Sie ist als Sprecherin des «Wort zum Sonntag» in der ARD einem breiten Publikum bekannt. Dieser Text ist eine gekürzte und bearbeitete Version einer «Evangelischen Morgenfeier» im Radiosender Bayern 1.

Titelplatt der Ausgane "Erinnere dich" der Ausgabe 10/24 des Magazins "blick in die kirche"
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