Die Nacht ist eine besondere Zeit, wohl auch deshalb, weil vieles, was tagsüber ablenkt, wegfällt. Es scheint so zu sein, dass die Schutzmem-bran des Alltags in der Nacht etwas durchlässiger ist. Die Menschen sind berührbarer, verletzlicher und ehrlicher. In der Nacht geht es auch in der Telefonseelsorge um Wesentliches, Verzweiflung und existenzielle Einsamkeit werden thematisiert.
Die Telefonseelsorge wird zu Recht oft als das Nachtgesicht der Kirche bezeichnet. Zum einen, weil sie nachts erreichbar ist; zum anderen, weil sich Menschen mit ihren Nachtthemen, mit Schwerem und Dunklem an die Telefonseelsorge wenden können. Es hat etwas Tröstliches, dass in der Nacht jemand da ist, mit dem man reden kann. Dass das Angebot anonym ist, macht es leichter, ungeliebte Gefühle und schambesetzte Themen anzusprechen.
In der Bibel werden einige Geschichten von besonderen Nachtbegegnungen erzählt, in denen es um Wesentliches geht: Jakob kämpft eine ganze Nacht lang um Segen, er wurde schuldig und braucht diesen Segen, um weitergehen zu können (1. Mose 32). Ein anderer Mann, von dem in der Bibel berichtet wird, nutzt die Nacht, um heimlich mit Jesus zu reden. Er bekommt tiefe neue Einsichten und versteht etwas mehr (Johannes 3).
Auch heute ist die Nacht für viele etwas Besonderes, eine Zeit, um sich mit wesentlichen Dingen zu beschäftigen. Viele Menschen liegen nachts wach, sind in Grübelschleifen gefangen, fühlen sich von Sorgen überflutet oder ihren Gedanken und Gefühlen ohnmächtig ausgeliefert. Einige davon nutzen die Telefonseelsorge, um über das, was sie umtreibt und nicht schlafen lässt, sprechen zu können.

Ich erinnere mich an eine Nachtschicht: Das Telefon stand nicht still, der Gesprächsbedarf war groß. Es ging um Zukunftsängste, die in der Nacht bedrängender erlebt wurden. Es ging um Gesundheitssorgen, um Einsamkeitsgefühle und Suizidgedanken. Einige Anrufende konnten nicht zur Ruhe kommen und suchten Beruhigung durch einen zwischenmenschlichen Kontakt. Eine fast typische Nachtschicht.
Deutlich in Erinnerung geblieben ist mir aber das Telefonat mit einem Mann. Der Anruf hatte ihn Überwindung gekostet. Er erzählte von falschen Lebensentscheidungen, von Fehlern, für die er sich schäme und davon, schuldig geworden zu sein. Es hatte sich viel angesammelt in ihm, er wollte diese Dinge erzählen, es war fast so etwas wie eine Lebensbeichte. Das Aussprechen im wertschätzenden Rahmen eines seelsorgerlichen Gespräches bewirkte eine spürbare Entlastung in ihm. Nur durch diese Entlastung war ein weiterer Schritt möglich.
Er konnte sich im zweiten Teil des Gesprächs darauf einlassen, intensiver auf eine besonders belastende «Baustelle» in seinem Leben zu schauen, wo große Schuldgefühle zu einer Erstarrung geführt hatten. Er erkannte, dass es wichtig ist, Verantwortung für sich und auch für sein früheres Verhalten zu übernehmen. Schuldgefühle verhindern manchmal, dass Menschen Verantwortung übernehmen. Konkret bedeutete dies, dass er sich bei einer nahestehenden Person entschuldigen wollte und über eine Form der Wiedergutmachung nachdachte.
Manchmal können wir in der Telefonseelsorge Menschen aus ihrer gefühlten Ohnmacht und Starre heraus begleiten und sie motivieren, selbstverantwortlich und wieder handlungsfähig zu werden: Das sind echte Sternstunden, wenn dies glückt. Und in dieser Nacht glückte es.
Zum Schutz der ratsuchenden Person wurde das Beispiel anonymisiert, die Telefonseelsorge sichert Vertraulichkeit zu.

«Durch die Nacht» als E-Paper
Wie erleben Menschen die Nacht? Eine Kioskbetreiberin in Hanau, ein Wohnungsloser, eine Apothekerin – das neue blick in die kirche-Magazin widmet sich dem Thema Nacht aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Auch die letzte Nacht Jesu im Garten Gethsemane wird theologisch beleuchtet.
Das Magazin, erschienen am 5. April als Beilage zur Tageszeitung und als E-Paper, begleitet Leserinnen und Leser durch nächtliche Pilgerwanderungen, die Osternacht, medizinische Aspekte des gesunden Schlafs und Probleme wie Lichtverschmutzung. Eine Nachtforscherin erklärt im Interview, warum Menschen früher in Etappen schliefen, was nächtliche Gottesbegegnung besonders macht – und woher die Redewendung «jemandem heimleuchten» stammt.
Das blick in die kirche-Magazin erscheint vierteljährlich in einer Auflage von 225.000 Exemplaren als Beilage der regionalen Tageszeitungen in Kurhessen-Waldeck. Es bietet Interviews, Reportagen, geistliche Impulse sowie Lebenshilfe und Ratgeberthemen – ergänzt durch ein beliebtes Preisrätsel.