blick in die kirche / Fragen: Olaf Dellit
Veröffentlicht 04 Okt 2024

Als Therapeut haben Sie Trauernden früher geraten, den Verstorbenen loszulassen. Inzwischen haben Sie einen anderen Ansatz. Wie kam es dazu?

Roland Kachler: Das kam durch den Tod unseres 16-jährigen Sohnes. Ich habe sofort gemerkt, dass ich ihn nicht loslassen will und kann. Damals war das in der Trauerpsychologie nicht erlaubt. Ich habe mich aber auf meine eigenen Gefühle verlassen und auch nach psychologischen Theorien gesucht, die mich mein Erleben verstehen lassen und es erlauben.

Man muss gar nicht „loslassen“?

Kachler: Wenn loslassen heißt, den Verstorbenen zu vergessen oder in den Hintergrund treten zu lassen, dann muss man nicht loslassen. Natürlich muss man realisieren, dass er verstorben ist, aber zugleich eine innere Beziehung aufbauen und leben. Die  Grundidee ist: Der Tod beendet das Leben eines nahen Menschen, aber nicht die Liebe zu ihm.

Sie sagen, man könne mit Verstorbenen weiterhin eine Beziehung führen. Wie kann man sich das vorstellen?

Kachler: Die meisten Trauernden bei schweren Verlusten reden zum Beispiel mit dem Verstorbenen am Grab oder vor einem Foto des Verstorbenen. Sie spüren seine Nähe. Sie träumen von ihm. Manche Trauernde riechen an den Kleidern des Verstorbenen und erleben so seine Nähe. Das heißt: Unser Bindungssystem oder unsere Liebe ermöglichen spontane Näheerfahrungen, die die Grundlage für diese innere Beziehung sind.
Später sind es vor allen Dingen die Erinnerungen, die den Verstorbenen immer wieder nahebringen und, wie gesagt, innere Gespräche. Der Verstorbene wird so etwas wie ein innerer Begleiter; man könnte auch sagen: zu einer Ressource. Diese Beziehung verändert sich aber natürlich auf die Dauer.

Nach Ihrem Ansatz können Verstorbene Berater sein. Wie geht das?

Kachler: Viele Menschen haben den Eindruck, dass bei Entscheidungen der Verstorbene präsent ist. Ganz konkret.
Eine Witwe, die das Haus nicht halten kann, fragt innerlich ihren Mann: Kann ich das Haus verkaufen, obwohl du ganz viel da investiert hast? Da gibt es so etwas wie eine innere Reaktion oder bildhaft die Erfahrung, dass der Verstorbene zustimmt.

Was ist, wenn es im Leben schwere Konflikte gab?

Kachler: Es gibt Beziehungen, in denen es vor dem Tod Störungen oder ungelöste Themen gab, insbesondere beim Suizid eines nahen Menschen. Diese ungeklärten Konflikte oder auch reale Verantwortlichkeiten im Sinne von Schuld müssen in dieser inneren Beziehung geklärt werden, sonst ist diese Beziehung über Wut, Schuld oder über Ungelöstes gebunden. Zur inneren Beziehungsarbeit gehört es, diese Dinge zu klären, zum Beispiel durch Briefe an den Verstorbenen.

 

Roland Kachler

Zur Person

Roland Kachler (69) hat Evangelische Theologie sowie Psychologie studiert und im Anschluss sein Vikariat absolviert. Er wurde jedoch nicht Pfarrer, sondern Leiter der Psychologischen Beratungsstelle Esslingen und arbeitete dann in der Landesstelle für Psychologische Beratungsstellen in Stuttgart. Inzwischen ist er in seiner eigenen Psychotherapie-Praxis tätig und bietet dort unter anderem Paartherapie sowie Trauerbegleitung und -therapie an. 
Kachler hat zahlreiche Bücher zu Fachthemen veröffentlicht, das jüngste zur Paartherapie «Einander neu entdecken» erscheint in diesen Tagen. Auch zu Traumata und zur Kindererziehung gibt es Bücher von ihm, neben der im Interview vorgestellten Trauerarbeit. Zu seinen Hobbys zählt Roland Kachler Lesen, Theater und Oper sowie seine Enkel. 
 

Ein wichtiger Begriff in Ihrem Ansatz ist der „sichere Ort“. Was ist das und warum ist dieser Ort so wichtig?

Kachler: Wir haben die Angst, dass der Verstorbene ins Leere, ins Nichts oder ins Vergessen fällt. Demgegenüber braucht es einen guten Ort, um den Verstorbenen zu verankern, sodass er nicht ins Leere fällt. Solch ein sicherer Ort ist die Erinnerung, vor allen Dingen der eigene Körper, aber auch transzendente oder spirituelle Orte wie die Hand Gottes, das Haus Gottes oder das ewige Licht. Wenn der Verstorbene an diesem sicheren Ort bewahrt ist, kann auch die innere Beziehung dorthin gelebt werden.

Sie beschreiben die Suche nach diesem Ort als anstrengend und oft langwierig. Sie arbeiten dabei mit Meditationen.

Kachler: Ja, ich bitte Trauernde, sich diesen Ort vorzustellen, sodass er wie in einem Traum bildlich präsent ist. In vielen Trauer- oder Begegnungsträumen wird dieser Ort erträumt. Er zeigt sich zum Beispiel als Regenbogen oder als Platz hoch in den Bergen. Diese Imaginationen leite ich in der Trauerbegleitung an, so ähnlich wie in einem Tagtraum.

Sie erzählen im Buch von einer Situation, als Sie in der Kirche einen Schmetterling sehen und darin Ihren Sohn erkennen. Andere würden das als Zufall, vielleicht sogar naiv bezeichnen.

Kachler: Bei schweren Verlusten erleben viele Trauernde solche symbolischen Signale, die sie als Botschaft, als Präsenz des Verstorbenen, deuten. Natürlich kann man das naturwissenschaftlich schnell entmythologisieren, aber für Trauernde ist es eben ein Signal. Eine Witwe sagt zum Beispiel: Immer, wenn ich an das Grab gehe, ist diese Amsel da und ich spüre die Nähe meines Mannes.
Der Psychotherapeut Carl Gustav Jung nennt das Synchronizitätserfahrungen. Eine Mutter sagt zum Beispiel: Immer, wenn wir losfahren, reißt der Himmel auf und wenn das Licht durchscheint, spüren wir die Nähe unserer verstorbenen Tochter.Diese «Zufälle» ermöglichen eine Aktualisierung der inneren Beziehung.

Sie machen Mut, solche Gedanken oder den Glauben daran zuzulassen.

Kachler: Ich ermutige Trauernde, diese symbolischen Zeichen als Geschenk zu nehmen und als Impuls, sich auf diese neue Erfahrung einzulassen. Wie gesagt, man kann es schnell entmythologisieren, aber Trauernde in ihrem Schmerz und in ihrer Liebe erleben und verstehen diese Signale als Botschaften und als Aufforderung, die Nähe zu spüren.

Titel des Buchs "Meine Trauer wird dich finden"

Buchtipp

Der Trauerexperte Roland Kachler sucht in seinem Buch «Meine Trauer wird dich finden» einen neuen Weg der Trauerbewältigung: Statt den Verstorbenen loszulassen, zielt seine Methode darauf, die Liebe für den Verstorbenen so zu bewahren, dass eine liebevolle innere Beziehung entstehen kann und auch wieder Glück erlebt werden darf. Die praktischen Übungen, Hinweise und Tipps am Ende jedes Kapitels helfen, diesen neuen Weg zu gehen. Roland Kachler hat sein seit vielen Jahren erfolgreiches Buch aktualisiert und neu bearbeitet. 

Taschenbuch im Herder-Verlag, 192 Seiten, im Buchhandel erhältlich, ISBN 978-3-451-60045-6

Sie beziehen sich auch auf Gott und die Bibel. Ist Ihr Ansatz auch ohne Religion denkbar?

Kachler: Ja. Es gibt verschiedene sichere Orte, auch transzendente Orte im religiösen Kontext: die Hand Gottes, das Haus Gottes, das Licht Gottes. Aber es gibt auch den Raum des Körpers, den viele Trauernde spüren, oder den Erinnerungsraum als sicheren Ort. Das braucht nicht notwendigerweise einen transzendenten Bezug.   
Der transzendente, sichere Ort ist gewissermaßen ein größerer Raum, in dem der Verstorbene gehalten und bewahrt wird. Der Tod als letzte Grenze stellt ja die Frage: Gibt es einen jenseitig sicheren Ort auf der anderen Seite unserer Wirklichkeit? Der Tod stellt die Herausforderung, sich zu fragen: Gibt es diesen jenseitigen und – vor allem auch – ewig sicheren Ort für den Verstorbenen?

Man kommt um diese Frage nicht mehr herum.

Kachler: Genau. Die anderen sicheren Orte wie zum Beispiel am Grab, an einer Gedenkstelle in der Wohnung, im eigenen Körpererleben oder im Erinnerungsraum sind ja begrenzte Orte. Viele Trauernde wünschen sich ein Wiedersehen. Dazu braucht es einen transzendenten, sicheren Ort, zu dem ich dann in meinem Sterben eines Tages ebenfalls hingehen werde.

Sie hatten vom Tod Ihres Sohnes erzählt. Könnten Sie beschreiben, wie sich die Beziehung zu ihm in den 23 Jahren seit dem Tod verändert hat?

Kachler: Anfangs war es eine suchende, verzweifelt haltende Beziehung, die auch sehr stark über den Schmerz definiert war. Allmählich wurde es eine innere, freiere Beziehung. Mein Sohn ist in vielen Momenten präsent. Er ist so etwas wie ein freundlicher, leichter, heiterer Begleiter. Den Todestag und seinen Geburtstag begehen wir mit Ritualen, über die er präsent ist. Er ist als freundlicher Junge dabei, aber nicht mehr in dieser intensiven, verzweifelten, fast schon klammernden Beziehung. Unsere Beziehung wurde einerseits sicherer, andererseits leichter und gelassener.

Eine Person sitzt auf einer Friedhofsbank mit Blumen in der Hand
Titelplatt der Ausgane "Erinnere dich" der Ausgabe 10/24 des Magazins "blick in die kirche"
Magazin als e-Paper

Das «blick in die kirche-magazin» bietet einem großen Lesepublikum viermal im Jahr ein buntes Angebot an Themen rund um Kirche und Diakonie, aber auch darüber hinaus. Jedes Heft hat ein Titelthema, das in unterschiedlichen Formen entfaltet wird. In Interviews, Reportagen, Berichten und geistlichen Texten informiert und unterhält die Redaktion die Leserinnen und Leser. Ergänzt wird das Angebot mit Ratgeber- und Lebenshilfethemen sowie dem beliebten Preisrätsel. In einer Auflage von 245.000 Exemplaren liegt das Magazin den Tageszeitungen in Kurhessen-Waldeck bei und kann online unter blickindiekirche.de als e-Paper gelesen werden.