Eigentlich ist Corona schuld. Zu Hause bleiben oder spazieren gehen, mehr ging damals ja kaum. Wir entschieden uns fürs Gehen, und es ergab sich ein Rhythmus: Jeden Sonntagmorgen hinauf in den Park, eine halbe Stunde bergan stiefeln, sommers wie winters.
Bis zum Ziel, der Wassertretstelle: einem Becken aus Stein, sprudelnd durchflossen von einem eisigen Bach. Davor eine Bank, ein paar Steine, ein Schild, das ist schon alles. Erst war es nur ein Spaß, quasi aus Langeweile. Schuhe und Strümpfe aus, Hose hochgekrempelt und zögernd ein paar Stufen hinab ins – „huch, das ist ja superkalt! Hilfe!“– kühle Nass. Dann im Storchengang und mit Hand am Geländer lange dauernde Sekunden hin- und herstapfen. Schließlich keuchend auf die Bank sinken, Wasser abstreifen und dankbar rein in warme Socken und Schuhe. Gefühl: ein neuer Mensch!
Wassertreten als Challenge
Für uns wurde dieser Ort bald zum Brunnen für vieles: erfrischen, durchhalten, überwinden. Sich in der endlosen Reihe der Wochentage nicht verlieren. Und während im Internet Eisbaden-Videos die Runde machten, bewältigten wir nun regelmäßig die kleinere Challenge „Wassertreten“ und wurden damit ungeplant „Kneippianer“.
Gibt es die überhaupt noch? Diese Leute, die sich durch kalte Güsse und Tautreten vor Infekten und anderen Krankheiten schützen wollen? „Klar gibt es uns“, heißt die Antwort beim Kneipp-Bund, dem Dachverband von 2.000 Kneipp-Vereinen, zertifizierten Einrichtungen und Fachverbänden. Lebendiger denn je, möchte man sagen, ist das Kneippen: Von der von Pfarrer Sebastian Kneipp erfundenen Gesundheitslehre ist vorrangig die Sache mit dem kalten Wasser bekannt; weniger, dass seine Fünf-Elemente-Lehre auch Heilkräuter, Ernährung, Bewegung und Lebensordnung umfasst. Es ist eine ganzheitliche Gesundheitsvorsorge, die das Immunsystem stärkt und Widerstandskräfte anregen soll.
Hört sich modern an und wird heute sogar in Kindergärten gelehrt – 500 sind bereits zertifiziert und haben Verfahren wie das „Armbaden“ in den Tageslauf eingebaut. Selbstwirksamkeit ist das große Stichwort: Etwas tun, bevor etwas mit einem geschieht. Klar, die großen Schicksalsschläge lassen sich mit kaltem Wasser nicht bekämpfen. Wohl aber Befindlichkeitsstörungen, Infekte, Kreislaufschwächen, Krampfadern und Schlafprobleme.
Zur Person
Sebastian Kneipp wurde 1821 im Unterallgäu als Sohn eines Webers in ärmlichen Verhältnissen geboren. Dennoch gelang ihm der Weg zum Gymnasium und ein Theologiestudium, Kneipp wurde katholischer Priester. Bekannt geworden ist er jedoch für seine medizinischen Ideen. Vermutlich litt er selbst an Tuberkulose und soll sich mit Bädern in der eiskalten Donau geheilt haben. Er stieß auch auf Widerstand und wurde wegen Kurpfuscherei angezeigt. Doch Kneipp und seine Methoden wurden immer populärer und europaweit bekannt. Neben dem Wasser (Güsse und Wassertreten) spielen Vollwertkost, Heilpflanzen, Barfußlaufen und die Ordnungstherapie, in der es um Vorbeugung geht, eine Rolle. Kneipp starb 1897 an einem Tumor, weil er sich nicht operieren lassen wollte. (Quelle: Wikipedia)
Weil es kaum möglich ist, das Kneipp-Verfahren im Blindversuch zu testen – schließlich merkt man sehr wohl, ob man einen kalten Guss erhält oder nicht! – gibt es wenige wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweise. Inzwischen befassen sich allerdings mehr Studien damit und belegen oft positive Auswirkungen auf Körper und Psyche.
Erinnern wir uns an die Jahre 2022 und '23. Eine endlose Reihe von Lockdowns und Tests, fast alles war dem unheimlichen Virus untergeordnet. Nicht aber das Wassertreten! Hier am kalten Quell begegneten wir selten Menschen. Hier fühlten wir uns jede Woche aufs Neue erfrischt und klopften uns gegenseitig auf die Schulter: Wieder was getan! Hier sahen wir den Schnee fallen und fühlten winters das Wasser noch eisiger werden, wurden von Rotkehlchen beäugt und selten auch von Spaziergängern, die stets fragten: „Ist das nicht zu kalt?“
Nein, das Kalte war uns willkommen. Bis heute behalten wir dieses Ritual bei – das Leben sieht anschließend stets wieder wie blankgeputzt aus.
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