Die Angst vor dem eigenen Ungenügen ist dieselbe wie im 16. Jahrhundert, finde ich: Die digitale Technik bietet uns Millionen Wahlmöglichkeiten für fast alles. Damit gerät aber jede Entscheidung, die ich treffe, unter Rechtfertigungsdruck. Allein durch die Tatsache, dass es so viele Alternativen gegeben hätte. Ein altes Sprichwort hieß: „Wer A sagt, muss auch B sagen.“ Heutzutage heißt es: „Wer A sagt, muss rechtfertigen, warum er 25 andere Buchstaben nicht gesagt hat.“
Beispiel Bildung: Als Du Kind warst, gab es Grundschule, Realschule, Gymnasium und Hochschule. Basta. Und im Berufsleben Lehrling, Geselle und Meister. Heute sind die Bildungswege in zahllos kombinierbare Module liberalisiert, bis man nach 100 Bewerbungen, 50 Gesprächen, 25 Monaten Probezeit und 5 Assessment-Centern einen Beruf ergreift, den man vermutlich mehrmals im Leben wechseln wird. Wie also rechtfertigst Du Deine Entscheidung, gerade diese Laufbahn gewählt zu haben?
Beispiel Partnerwahl: Als Du 18 warst – in deinem Dorf, deinem Stadtteil, in der Schule – kamen im Grunde nur Isolde und Irene infrage. Isolde war hübscher, aber Irene war netter. Als Konkurrenten aus dem Feld schlagen musstest Du nur Jürgen und Karl-Heinz. Jürgen war sportlicher, aber Karl Heinz hatte Führerschein. Heute gibt es zigtausend Isoldes und Irenes auf den Datingportalen. Und Du konkurrierst mit zigtausend Jürgens und Karl-Heinzen in sorgsam gestylten Profil-Bildern. Wie also rechtfertigst Du Deine Entscheidung für gerade diese und nicht jene Beziehung?!
Beispiel Ernährung, Gesundheit und Körper: Die Fahne humorloser Strenge und rigoristischer Rechtgläubigkeit flattert nicht mehr über strengreligiösen Kirchen, sondern über Bio-Supermärkten, veganen Bistros und Fitness-Centern. Hör' einfach mal Nichtrauchern vor einer Eckkneipe zu. Oder Tierschützern vor einem Steakhaus. Oder Veganern auf einem Fischmarkt. Wie also rechtfertigst Du Deine Pommes rotweiß, wenn Jogger mit Blutdruckmanschette, Schrittezähler und Kalorien-App an dir vorbeihecheln?
Martin Luthers quälende Frage „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ stellt heute kaum jemand mehr. Aber unausgesprochen quält viele die Frage: „Wie kriege ich eine gnädige Familie, nachsichtige Kollegen, eine barmherzige Gesellschaft?“ Muss man denn alles selber machen? Sich verurteilen oder sich freisprechen, sich verdammen oder erlösen?
Das dauernde Verurteilen kann in Minderwertigkeitskomplexe, psychosomatische Krankheiten, in Suchterkrankung oder Depression bis hin zum Suizidversuch münden. Das dauernde Sich-Freisprechen in eine egozentrische Bindungsunfähigkeit und Vereinsamung. Ich und mein Bauchnabel sind uns genug. Niemand soll mich prägen, formen oder verändern dürfen.
Martin Luthers mittelalterliche und brandaktuelle Entdeckung: Nicht ich selbst und nicht die Gesellschaft beurteilen Wert und Würde meiner Existenz, sondern Gott! Er, und nur er, ist die Jury, die die Zahlentafel hochhält. Und weil er sein Wesen und sein Wollen in Jesus Christus offengelegt hat und das Leben und Sterben dieses einen für alle anderen rechtswirksam „befreiend“, „freisprechend“, „vervollkommnend“ sein soll – deshalb sagen Christinnen und Christen auf der ganzen Welt und seit knapp 2000 Jahren: Jesus, der Gekreuzigte und Auferstandene, tut mir gut.
Wer vor Christus auf die Knie geht, braucht vor den Forderungen und Ansprüchen seiner selbst und denen der Gesellschaft niemals mehr in die Knie gehen. Und das tut wirklich gut, finde ich.
Buchtipp
Widersprüchlich und oft rätselhaft ist die Bibel und das, was in ihr steht. „Und das soll man glauben?“ (Gütersloher Verlagshaus), fragt Andreas Malessa in seinem aktuellen Buch. Gut lesbar und mit einer ordentlichen Prise Humor erzählt er von der Entstehungsgeschichte und von unterschiedlichen Übersetzungen der Bibel. Kontroversen Fragen geht er dabei nicht aus dem Weg, sei es die Haltung der Bibel zu Homosexualität oder der (vermeintliche) Gegensatz zwisschen Naturwissenschaft und Glauben. Mit seinem Buch beweist der Theologe und Autor scheinbar mühelos, dass ein unterhaltsamer Schreibstil und Tiefgang gut miteinander vereinbar sind.
Magazin als e-Paper
Das «blick in die kirche-magazin» bietet einem großen Lesepublikum Lebenshilfe- und Ratgeberthemen in unterhaltsamer Form. In einer Auflage von 250.000 Exemplaren liegt das Magazin vier Mal im Jahr den Tageszeitungen in Kurhessen-Waldeck bei und kann online unter blickindiekirche.de als e-Paper gelesen werden.