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Dr. Andreas Goetze zeigt sich mit einer ökumenische Wanderfriedenskerze in Jerusalem.

Dr. Andreas Goetze zeigt sich in Jerusalem mit einer ökumenische Wanderfriedenskerze verbunden mit Menschen, die sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Bei der Aktion «Wanderfriedenskerze» werden jedes Jahr besonders gestaltete Kerzen ausgesendet. Menschen können damit z.B. in gewaltsamen Konflikten und Kriegen Zeichen des Friedens setzen.

Frankfurt am Main / Fragen: Rita Haering/ekhn.de
Veröffentlicht 19 Feb 2025

Pfarrer Dr. Andreas Goetze reiste vom 24. Januar bis 4. Februar 2025 mit einer kleinen Gruppe durch Israel und die palästinensischen Gebiete. Anlass war die «Gebetswoche zur Einheit der Christen», zu der alle Kirchen und Konfessionsfamilien in Jerusalem einladen. Die politischen Ereignisse erlebte er aus erster Hand und sprach mit Israelis und Palästinenserinnen und Palästinensern. Im Westjordanland besuchte er eine evangelische Schule, die als Zufluchtsort dient. Im Interview spricht er auch darüber, wie Menschen in Deutschland mit den erschütternden Ereignissen umgehen können. Die Reise wurde in Kooperation mit der Agentur AphorismA in Berlin, dem Jerusalemsverein, dem Zentrum Oekumene und der ACK Hessen organisiert. 

Herr Dr. Goetze, wie haben Sie die Menschen in Israel und in den palästinensischen Gebieten erlebt?

Dr. Andreas Goetze: Wir haben Menschen aus der israelischen wie auch aus der palästinensischen Gesellschaft mit jüdischem, christlichem und muslimischem Hintergrund getroffen. Wir haben zugehört, Fragen gestellt und Eindrücke gesammelt. Mir ging es so: Ich habe eine große Ermüdung wahrgenommen, eine lähmende Perspektivlosigkeit auf allen Seiten. Zwei traumatisierte Gesellschaften. Viele wissen nicht, wie sie die Situation weiter aushalten sollen und fragen, welche Entwicklung das alles noch nimmt. Viele erlebte ich als sehr dünnhäutig. Schnell wird dem anderen jede Menschlichkeit abgesprochen. Der Schmerz, die Verletzungen sitzen so tief.

Wie haben Sie die Stimmung in Israel wahrgenommen – nachdem einige Geiseln freigekommen sind?

Goetze: In Israel wird jede Geisel, die freikommt, erleichtert bejubelt. Eine kurze Euphorie, die dann in Ernüchterung umschlägt: «Wofür der ganze Krieg? Nichts hat sich wirklich geändert». Kein Plan B. «Wie sollen wir umgehen mit den Verlusten, den vielen Verletzungen an Körper und Seele?» Die immer kleiner werdende liberale Minderheit im Staat Israel ist voller Sorge. Ein jüdisch-israelischer Freund analysiert: «Furcht, Militarismus und Messianismus sind die drei Aspekte, die unsere Gesellschaft bestimmen. Wir haben die Kontrolle über den religiösen Nationalismus verloren». Er meint die Macht der Siedlerbewegung in allen staatlichen Organisationen, die Radikalisierung und Gewalt der Siedler-Jugend, die keine Autorität mehr akzeptiert und einen Ethno-Nationalismus, der mit allen Mitteln ein «Groß-Israel» schaffen will und davon träumt, alle Palästinenser:innen zu vertreiben.

Wie erleben die Palästinenserinnen und  Palästinenser die Waffenruhe in Gaza und die Entwicklungen danach?

Goetze: Die Waffenruhe wurde mit großer Erleichterung aufgenommen. Aber mehr noch bewegen die vielen Toten, Verletzten und das Ausmaß der Zerstörungen im Gaza-Streifen. Die Angst überwiegt, dass der Krieg in der Westbank einfach weitergeht. «Nach Gaza sind jetzt wir dran», sagt ein palästinensischer Christ aus Bethlehem. Seine bittere Erkenntnis: «Der Staat Israel will unser Leben so schwer wie möglich machen. Er hofft, dass wir so freiwillig gehen. Die Siedler können unter dem Schutz des israelischen Militärs tun und lassen, was sie wollen. Wir haben überhaupt keine Rechte». Und die korrupte Palästinensische Autonomie-Behörde ist ohne politische Legitimation und hat jeglichen Rückhalt in der Gesellschaft verloren. Das stärkt eher die Hamas, weil es keine Alternative gibt.

In Bethlehem liegen die Wurzeln des Christentums, nach biblischer Überlieferung soll hier Jesus geboren sein. Wie haben Sie die Situation in Bethlehem wahrgenommen?

Goetze: Zwei Jahre hintereinander Weihnachten in Bethlehem ohne Pilgerinnen und Pilger: In der Geburtskirche ist es menschenleer. Der Krieg im Nahen Osten hat den Tourismus zum Erliegen gebracht. Die Menschen verzweifeln an den wirtschaftlichen Folgen – und der Sorge um Verwandte in Gaza. Fast 90 neue Checkpoints allein in der Region Bethlehem. Die Bewegungsmöglichkeiten sind stark eingeschränkt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 80%. «Wir hoffen, wir warten auf ein Wunder».

Sie haben auch die evangelische Schule TALITHA KUMI in Beit Jala im Westjordanland besucht. Welchen Eindruck haben die Schülerinnen und Schüler auf Sie gemacht?

Goetze: TALITHA KUMI wie auch die anderen Schulen in evangelischer Trägerschaft werden als Schutzraum, als Zufluchtsort wahrgenommen; als Orte, die Struktur bieten, die helfen, den alltäglichen Stress abzubauen. «Unsere Schule bietet einen Hauch von Normalität», sagte eine Lehrerin. Erkennbar haben die psychologischen Probleme von Schülerinnen und Schülern wie Lehrkräften zugenommen. Angst, Ungewissheit, Trauer, die Sorge um den Zerfall der Gesellschaft sind ständige Begleiter. Das gilt übrigens ganz parallel auch für die israelische Gesellschaft, was die Lage so aussichtslos macht. Eine 15-jährige Schülerin sagte es so: «Meine Mutter lässt mich nie allein aus dem Haus wie früher. Frei fühle ich mich nur in der Schule. Hier kann ich meine Freundinnen sehen». Ohne Zukunfts-Perspektive wird sie nach dem Abitur ins Ausland gehen – so wie es viele planen.

Zur Person

Dr. Andreas Goetze ist Pfarrer und Referent im Fachbereich interreligiösen Dialog mit dem Schwerpunkt Islam im Zentrum Oekumene der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck in Frankfurt a.M.. Goetze ist geistlicher Begleiter und seit mehr als 30 Jahren spiritueller Reiseleiter im Heiligen Land. Er war Vikar in Jerusalem und ist ökumenisch eng verbunden mit  vielen Menschen in Israel-Palästina (Juden, Christen sowie Muslimen). Der Pfarrer plädiert dafür, in den Debatten über den Israel-Palästina-Konflikt mehr Dialogräume zu eröffnen, Zwischentöne zu finden und den Schmerz des Anderen wahrnehmen zulernen.

Nicht jeder kann fliehen. In einem Zeit-Online-Interview schildert die Psychotherapeutin Katrin Glatz Brubakk, wie schwer traumatisiert die Kinder in Gaza sind. Die Kapazitäten reichen nicht aus, um sie angemessen zu behandeln. Was sind Ihrer Einschätzung nach die Folgen?

Goetze: Beide Gesellschaften sind zutiefst verwundet, verletzt. Gegenseitige Vernichtungs-Phantasien prägen den Diskurs. Die Erfahrungen von Gewalt, Verlust geliebter Menschen, Zwangsumsiedlung und ständiger Angst werden aus der je eigenen Geschichte heraus gedeutet. «Wir sind die Opfer» ist das vorherrschende Narrativ. «Wir haben das Gefühl von Sicherheit, Gemeinschaft und Identität verloren», hören wir von allen Seiten. Dieses allgegenwärtige Gefühl der Hoffnungslosigkeit verstärkt die Traumata und wird Generationen prägen.

Inzwischen wurde die Nachricht mehrfach bestätigt: Laut Donald Trump soll die USA den Gaza-Streifen übernehmen, die Palästinenser:innen sollen ausgesiedelt werden. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Goetze: Die jüdisch-israelische Rechte und alle, die ethno-nationalistisch denken, freuen sich über solche Aussagen. Alle anderen machen solche Aussagen fassungslos, denn sie gießen nur Öl ins Feuer. Zum Gaza-Streifen zu sagen: «We have to clear it out» ist nichts anderes als ein Aufruf zur ethnischen Säuberung.

In Deutschland fühlen sich viele Menschen angesichts der Nachrichtenlage über die Situation in Nahost fassungslos und hilflos. Welche Botschaft bringen Sie für uns mit?

Goetze: Ich bin durch über 30 Jahre Reisen und Leben im Nahen und Mittleren Osten innerlich vielfältig verbunden mit den Menschen in der Region, mit Jüdinnen und Juden, Christ:innen und Muslim:innen, mit Israelis und Palästinenser:innen. Ich verstehe, dass man gerne eindeutige Antworten möchte.

Man will so gerne auf der «richtigen Seite» stehen. Gerade auch bei uns in Deutschland. Sich gegen Antisemitismus in unserem Land zu engagieren und gegen die völkerrechtswidrige Besatzungs- und Siedlungspolitik des Staates Israel – das gehört für mich unbedingt zusammen und steht sich nicht gegenüber. Ein gerechter Frieden in der Region schließt Selbstbestimmung und Gerechtigkeit für alle Menschen vor Ort ein.

Ich kann den Menschen mit ihren sehr unterschiedlichen Stimmen in Jerusalem nur wirklich zuhören, wenn ich bereit bin, mich darin einzuüben, den Schmerz, die Wut, die Trauer des Anderen wahrzunehmen und an mich heranzulassen. Klar, das ist keine komfortable Position. Wir brauchen gerade jetzt eine integrative Gedenk-Kultur. Raus aus den althergebrachten Denk- und Erinnerungsmustern. Es geht um Anerkennung der unterschiedlichen Erinnerungen. Das schließt ein, Einseitigkeiten aushalten zu lernen. Dafür müssen wir erst einmal geschützte Dialogräume eröffnen und gestalten und uns ohne Aggression und Rechthaberei neu ins Zuhören einüben. Wir müssen lernen, die Erzählungen des oder der Anderen auszuhalten, ohne sie sofort zu verunglimpfen oder persönlich zu werden. Der Weg zur Genesung wird lang sein wie auch der Weg vom Überleben zur Heilung. Dazu braucht es Mitgefühl sowie eine ehrlich-kritische Sicht auf die seit Jahrzehnten die Politik prägenden religiös-nationalistischen Sichtweisen in beiden Gesellschaften.

Vielen Dank für das Gespräch.