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Dem Sinn der Sache auf der Spur: Prof. Tatjana Schnell erforscht, was es für ein sinnerfülltes Leben braucht

Dem Sinn der Sache auf der Spur: Prof. Tatjana Schnell erforscht, was es für ein sinnerfülltes Leben braucht

Kassel / blick in die kirche, Fragen: Olaf Dellit
Veröffentlicht 03 Okt 2025

Macht ein Ehrenamt eigentlich glücklich, Frau Schnell?

Prof. Tatjana Schnell: Jein. Studien zeigen, dass ein Ehrenamt oder eine Freiwilligentätigkeit tatsächlich das Wohlbefinden steigert. Das findet auf verschiedenen Ebenen statt, wobei das Glückserleben nicht unbedingt im Vordergrund steht: Freiwillig tätig zu sein, steigert die seelische und körperliche Gesundheit, erhöht die wahrgenommene Lebensqualität und stärkt den Sinn im Leben.

In Ihrer Forschung benennen Sie vier Elemente für das Sinnerleben. Das erste ist «Kohärenz». Was bedeutet das mit Blick auf das Ehrenamt?

Schnell: Diese vier Elemente sind alle vorhanden, wenn Menschen sagen: Wir leben sinnvoll. Wenn eins davon nicht da ist, bröckelt bereits der Sinn. Sie hängen eng miteinander zusammen. Freiwilligenarbeit ist so sinnstiftend, und zwar noch viel mehr als die Erwerbsarbeit, weil sie in diesen vier Merkmalen so viel stärker wirken kann. Bei der Erwerbstätigkeit tun wir häufig Dinge, weil wir müssen. Bei der freiwilligen Tätigkeit suchen wir uns etwas aus, das zu uns, unseren Werten und unserer Lebensgestaltung passt.

Und deshalb ist da die Kohärenz – das heißt Passung, Stimmigkeit – normalerweise hoch. Ich suche mir nichts aus, das mir widerspricht und das meinen Alltag durcheinanderbringt, sondern etwas, das zu meinem Leben passt.

«Bedeutsamkeit» ist das zweite.

Schnell: Menschen erleben sich als erfüllt, wenn sie merken: Es hat Konsequenzen, dass es mich gibt. Ich trage dazu bei, dass etwas gut ist oder besser wird. Das muss nicht bedeuten, dass ich die Welt rette; es können auch viel kleinere Dinge sein. Es geht um die Erfahrung, dass ich durch mein Handeln oder meine Haltung etwas bewirke. Es ist das Gegenteil von: Ich bin egal.

Das dritte ist «Orientierung».

Schnell: Das ist die Frage: Wohin will ich eigentlich in meinem Leben? Freiwillige Tätigkeiten sollten mit dem zu tun haben, was für mich wichtig und richtig ist. Das ist uns oft gar nicht bewusst – aber es ist ein wichtiger Reflexionsschritt, bevor ich ein Ehrenamt starte.

Nummer vier ist «Zugehörigkeit».

Schnell: Existenzielle Zugehörigkeit bedeutet: Ich habe einen Platz auf dieser Welt. Freiwilligenarbeit ist ein guter Ort, um das zu erleben. Sie wird meist im Team ausgeübt, in einer Organisation, Institution, in der Kirche, in der Gemeinde. Man wird dadurch zu einem Teil von etwas. Und das tut gut in einer Zeit, wo wir stark individualisiert sind und viel tun müssen, um irgendwo dazuzugehören.eit wieder habe. Das waren immer extrem bereichernde Erfahrungen.

Zur Person
Website von Tatjana Schnell

Prof. Tatjana Schnell (54) stammt aus Homberg (Efze). Sie hat Psychologie, Theologie, und Philosophie in Göttingen, London, Heidelberg und Cambridge studiert, wurde in Trier promoviert und arbeitete viele Jahre an der Uni Innsbruck. Seit 2020 ist sie Professorin für Existenzielle Psychologie an der MF Specialized University in Oslo. Sie hat zahlreiche Bücher und Fachartikel veröffentlicht und ist in Zeitungen und anderen Medien präsent. Tatjana Schnell ist verpartnert und hat einen Sohn.

Buchauswahl:

  • Tatjana Schnell: Psychologie des Lebenssinns, Springer Nature, 29,99 Euro
  • Tatjana Schnell/Kilian Trotier: Sinn finden. Warum es gut ist, das Leben zu hinterfragen, Ullstein, 24,99 Euro

In Kirche und Diakonie kommt meist noch die Religiosität hinzu. Das, sagen Sie, steigert diese Faktoren noch.

Schnell: Wenn ein Mensch religiös ist, ist das eine Sinnquelle, die diese vier Merkmale sehr gut erfüllen kann. Sollen wir das noch mal durchdeklinieren?

Die Zugehörigkeit ist bei Religiosität ein zentraler Faktor. Die Gemeinschaft erlebt man zum Beispiel im Gottesdienst. Zugehörigkeit im religiösen Sinn geht aber darüber hinaus: Ich gehöre zu einer Kraft, die diese Welt geschaffen hat. Stärker geht es nicht. 
Dann die Orientierung: Religion bietet Welterklärung und moralische Leitlinien  durch heilige Schriften, Rituale und Liturgie, Dogmen – je nachdem. All das kann richtungsweisend sein. Bedeutsamkeit ist hier vor allem im kosmischen Maßstab gegeben. Wenn ich etwa davon ausgehe, dass Gott mich sieht und dass mein Handeln vor Gott bestehen muss, ist es nicht egal, was ich tue. Häufig wird das unterstützt dadurch, dass Menschen in Gemeinden und Gemeinschaften aufeinander schauen und gesehen werden.

Am meisten Schwierigkeiten haben religiöse Menschen heutzutage bei der Kohärenz. So berichten viele, dass es ihnen schwerfällt, die religiöse Weltsicht mit der naturwissenschaftlichen zu vereinbaren. Dabei gibt es durchaus Theologien und Lesarten der Bibel, die es erlauben, zentrale Glaubensinhalte mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbinden, ohne etwa an der Vorstellung festzuhalten, dass die Welt vor 6.000 Jahren geschaffen wurde. 

Und natürlich leidet diese Kohärenz auch, wenn man von Missbrauchsfällen erfährt oder sieht, wie es um die Gleichbehandlung von Frauen in der katholischen Kirche steht.

Die Religiosität ist unter Druck?

Schnell: Wir sehen in aktuellen Studien, dass Religiosität nicht mehr als Sinnquelle hervorsticht. Auch ihre gesundheitlichen Auswirkungen sind in Deutschland nicht klar positiv. In den skandinavischen Ländern sieht man Religiosität inzwischen gar häufiger bei Menschen, die krank sind. Es gibt die wissenschaftliche Hypothese, dass es in religiösen Gesellschaften der Gesundheit dient, wenn man selbst religiös ist. Aber je säkularer unsere Gesellschaften werden, desto weniger scheint Religion eine zentrale Sinnquelle und Quelle für Gesundheit und Wohlbefinden zu sein.

Wer Sinnvolles tut, lebt gesünder. Ist das wissenschaftlich nachweisbar?

Schnell: Ja, das ist so. Es gibt viele Studien, die das belegen.

Aber ein Ehrenamt birgt auch Gefahren. Sie zitieren gerne den Satz, man müsse nicht jeden Tag die Welt retten. 

Schnell: Wenn wir Dinge tun, die wir sinnvoll und wichtig finden, ist es schwer, sich abzugrenzen. Das ist bei ehrenamtlicher Tätigkeit noch mehr der Fall, weil ich meist das auswähle, was mir am Herzen liegt. Und wenn mir etwas am Herzen liegt, sage ich eher nicht: zwei Stunden pro Woche und dann bin ich weg. Die Abgrenzung kann schwer sein – sowohl innerlich als auch praktisch.

Es ist wichtig, dass Verantwortliche darauf achten, dass Menschen sich im Ehrenamt nicht selbst ausbeuten. Und da zitiere ich gern den Geschäftsführer von Greenpeace: «Du kannst nicht jeden Tag die Welt retten.»

«Menschen erleben sich als erfüllt, wenn sie merken: Es ist nicht egal, dass ich da bin.»
Tatjana Schnell

Die Aufgabe muss zur Person passen. Daran forschen Sie derzeit.

Schnell: Wir haben schon vor über zehn Jahren in einer Studie mit Ehrenamtlichen  gesehen, dass diejenigen in Kirchengemeinden ganz andere Sinnquellen haben als die in Hospizen, in der Freiwilligen Feuerwehr oder im Sportverein. Deshalb ist es wichtig, dass Menschen dorthin gelangen, wo sie auch hinpassen. Dazu müssen sie erst mal wissen, was ihnen wichtig ist. Und andererseits müssen auch Organisationen wissen, was für sie im Vordergrund steht. 

Das versuchen wir in diesem von der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt geförderten Projekt herauszuarbeiten.

Ist das nicht wie am Arbeitsmarkt?

Schnell: Das ist es. Und im Arbeitsmarkt weiß man schon lange um die Wichtigkeit dieser Passung. Im Ehrenamt war das seltsamerweise kaum Thema. Es ist aber wichtig, weil wir Veränderungen im Ehrenamt sehen. Es sind zwar nicht weniger Menschen bereit, sich zu betätigen, aber sie tun es eher punktuell. Und es gibt weniger Menschen, die Führungspositionen übernehmen und sich langfristig binden. Ohne das bleiben Strukturen aber nicht erhalten. Darum ist es wichtig zu wissen, wie und warum Menschen dabeibleiben.

Kann das ein Gegenmittel gegen das Gefühl sein, man könne in der Welt wenig bewirken?

Schnell: Ja. Man sieht einen Unterschied, wenn man Menschen, die freiwillig tätig sind, mit der allgemeinen Gesellschaft vergleicht. Bei ersteren gibt es mehr Sinn-erleben. Sie berichten von mehr Bedeutsamkeit, Zugehörigkeit, Orientierung und Kohärenz. Die Tatsache, dass viele Menschen sich engagieren, spricht auch für eine relativ stabile Zivilgesellschaft. Wir müssen nur aufpassen, dass wir das Ehrenamt nicht mit Bürokratie erschweren. Wenn man sowieso schon Zeit hergibt, will man sie nicht mit Sachen verbringen, die als unwichtig erlebt werden oder dem, was zählt, gar im Weg stehen.

Ich würde gerne mit einer persönlichen Frage schließen: Haben oder hatten Sie selber mal ein Ehrenamt?

Schnell: Oh ja, ganz viele. Ich habe den Kindergottesdienst geleitet, dann über viele Jahre einen Gospelchor. Ich habe Nachhilfe für Migrantinnen gegeben, im Weltladen gearbeitet, in der AIDS-Hilfe und bei der Telefonseelsorge. Ich habe auch unterstützende Workshops für Ehrenamtliche angeboten, die sich um Flüchtlinge gekümmert haben – weil es hier öfters zu starker Belastung kam und Abgrenzung schwierig war.

Ich muss aber sagen: Mein Berufsleben ist zurzeit so wild, dass ich kein Ehrenamt unterbekomme. Aber ich freue mich schon darauf, wenn ich die Möglichkeit wieder habe. Das waren immer extrem bereichernde Erfahrungen.

Sinnmacher-App
Website «Sinnmacher», wo es auch die Sinnmacher-App gibt

Mit der Sinnmacher-App begleitet Tatjana Schnell Menschen bei der Sinnfindung

Titelblatt des Magazins „blick in die kirche“, Ausgabe Oktober 2025. Fünf Personen stehen im Kreis und legen ihre Hände übereinander in die Mitte, von unten fotografiert. Oben rechts steht „magazin“ in weißer Schrift auf orangem Hintergrund, darunter „in die kirche“. Unten links zwei Textboxen: „INTERVIEW Teresa Weißbach über ihre Arbeit im Hospizdienst“ und „ENGAGIERT Kirchenvorstands-Mitglieder stellen sich vor“. Unten mittig groß „Ehrensache!“. Unten rechts ein pinkes Logo zur Kirchenvorstandswahl am 26.10.2025.
«Ehrensache!» als E-Paper

Bis zu acht Millionen sehen Teresa Weißbach als Försterin Saskia Bergelt im «Erzgebirgskrimi» (ARD). Weniger bekannt ist ihr regelmäßiges Ehrenamt auf einer Hospizstation. Im Interview spricht sie darüber, wie diese Aufgabe ihr Herz öffnet, warum Ehrenämter wichtig sind, über ihren Glauben und «gute Engel», die ihr begegnet sind.

Das Magazin widmet sich ehrenamtlichem Engagement in und außerhalb der Kirche – Anlass ist die Kirchenvorstandswahl in Kurhessen-Waldeck. Die Redaktion beleuchtet den Einsatz für Geflüchtete, Rehkitze, fairen Handel, Pfadfinderarbeit und mehr. Sie erklärt, wie Erste-Hilfe-Kurse für die Seele funktionieren, wie Kirche und Diakonie Sorgenetze knüpfen und was Ehrenamtliche bei der Telefonseelsorge leisten. Sinn-Expertin Prof. Tatjana Schnell erläutert, warum Sinnvolles gesund ist und wo Gefahren im Ehrenamt liegen.

Für Leserinnen und Leser gibt es wieder ein herausforderndes Gewinnspiel mit der Chance auf einen Hotelaufenthalt.

Das «blick in die kirche-Magazin» ist die Publikumszeitschrift der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und liegt viermal im Jahr den Tageszeitungen auf dem Gebiet der Landeskirche kostenfrei bei. Die Druckauflage beträgt knapp 225.000 Exemplare, hinzu kommen E-Paper und Webseite.