Mit diesem Gedanken im Kopf hatte Klöpfel sich vorgenommen, die Erinnerungen der Cousine ihres Vaters nicht einfach verschwinden zu lassen, sondern sie festzuhalten. Schon als Kind hatte Klöpfel sie gekannt und gemocht. Doch, wie das Leben so spielt, es gab eine Phase, in der die beiden über 30 Jahre kaum Kontakt hatten. Doch dann zog Klöpfel wieder nach Kassel, die alte Dame wohnte direkt gegenüber – und die alte Verbundenheit war schnell wieder da.
Häufig erzählte die alte Frau, längst weit über 90 Jahre alt, bei den Treffen aus ihrem Leben. Als Jutta Klöpfel ihr das Erinnerungsbuch vorschlug, wollte sie eigentlich noch warten, bis sie älter wäre, ließ sich aber umstimmen. Das war gut so, denn sehr viel Zeit blieb nicht mehr; mittlerweile ist sie verstorben.
Achtmal saß Jutta Klöpfel mit der Großcousine beisammen, Block und Stift dabei. Wie fängt man so etwas an? Klöpfel ging chronologisch vor und fragte zunächst nach den Erinnerungen aus der Kindheit. Zu Hause fasste die Theologin die Notizen in einen Text, sie schrieb in der Ich-Form; quasi stellvertretend für ihre Großcousine. Es sei gar nicht so leicht gewesen, die passende Sprache zu finden. Denn die alte Dame habe zwar einen reichen Schatz an Erinnerungen gehabt, aber nur selten über ihre Gefühle gesprochen – möglicherweise typisch für ihre Generation. Klöpfel suchte für das Buch einen Mittelweg zwischen Sachlichkeit und Empathie, wie sie erzählt.
Jutta Klöpfel möchte andere ermutigen, Älteren zuzuhören und sie zu befragen. Außerdem schreibt sie selbst schon lange Tagebuch und hat sich vorgenommen, ihre Tagebücher noch einmal alle zu lesen, wenn sie alt ist.
Das Erzählte ergänzte sie mit historischen Fakten. So ließ sie ihre Verwandte bei einem Treffen von technischen Neuerungen erzählen, die uns heute selbstverständlich erscheinen. Doch der allererste Fernseher, die erste Waschmaschine, das erste Telefon, der erste Staubsauger und der erste Kühlschrank waren für das Alltagsleben große Veränderungen. Und sie waren teuer, wie Klöpfel herausfand. So habe die erste Waschmaschine 1.800 D-Mark gekostet; ziemlich viel, wenn man weiß, dass der Ehemann gleichzeitig 590 D-Mark verdiente. Brutto.
Durch die Aufzeichungen kam Jutta Klöpfel nicht nur ihrer Großcousine näher, sondern auch ihren Großeltern – und sich selbst. Wo komme ich her? Wie hat mich das geprägt? Mit diesen Fragen beschäftigte sie sich beim Schreiben und kam zu einem Ergebnis: «Ich spürte: Hier gehöre ich hin. Hier bin ich richtig.»
Jutta Klöpfel möchte andere ermutigen, Älteren zuzuhören und sie zu befragen. Sie erinnert sich, dass ihr Großvater gerne aus seinem Leben erzählte – doch als damals 20-Jährige habe sie kein Ohr dafür gehabt. Heute bereut sie das und freut sich umso mehr, dass die Großcousine geistig so fit war: «Es war eine große Chance, dass sie sich so gut erinnerte.»
Die Pfarrerin schreibt aber nicht nur die Erinnerungen von anderen auf. Sie führt, wie sie erzählt, auch seit Jahren Tagebuch. Mittlerweile sind zehn Bände zusammengekommen. «Es hilft», sagt Klöpfel, «Klarheit zu gewinnen und Dinge loszulassen.» Das Tagebuchschreiben sei auch eine Art Selbstvergewisserung. Besonders in der Zeit nach dem Tod ihres Mannes habe es ihr geholfen, Gedanken und Erinnerungen niederzuschreiben. Klöpfel sortiert ihre Aufzeichnungen so, dass sie am Ende des Monats jeweils eine Art Zusammenfassung schreibt und dann noch eine am Jahresende.
Jutta Klöpfel hat sich vorgenommen, ihre Tagebücher noch einmal alle zu lesen, wenn sie alt ist. Sie wird auf fast vergessene Erinnerungen stoßen. Und vielleicht auch auf einen Münzfernsprecher.
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