23. Dezember 2014 spätnachmittags
Die Büros der Landesregierung in Stuttgart sind fast alle leer. Vor fünf Monaten haben IS-Terroristen im Nordirak die religiöse Minderheit der Jesiden massakriert, haben Kinder und Jugendliche vor den Augen ihrer Mütter erschossen, die Väter getötet, die Frauen verschleppt und als Sexsklavinnen durch ihre Kasernen gereicht.
Der Zentralrat der Jesiden in Deutschland hat das schwarz-grün regierte Bundesland Baden-Württemberg überzeugt, rund 1.000 überlebende Jesidinnen in einem sogenannten «Sonderkontingent aus humanitären Gründen» aufzunehmen. Bloß: Wie geht sowas praktisch?
Ministerpräsident Winfried Kretschmann stellt seinem jungen Referatsleiter für religiöse Minderheiten eine einzige Frage: «Würden Sie es denn machen, Herr Blume?»
Durch ein Fenster der Staatskanzlei sieht Michael einen geschmückten Weihnachtsbaum. «Jeder in meiner Generation hat doch den Film ‘Schindlers Liste’ gesehen», geht ihm durch den Kopf, «sage ich jetzt Nein, werde ich den Rest meines Lebens denken: Du hättest es tun können, hast aber gekniffen.» Und laut hört er sich sagen: «Ja, das kriege ich hin. Aber ich muss natürlich zuerst meine Frau fragen.»
24. Dezember 2014 abends
Familie Blume hat drei Kinder, sie sind elf, neun und drei. Die schönsten Jahre, um mit Kindern Heiligabend zu feiern. Michael liest die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium Kapitel 2 vor. «Machen wir immer so», erklärt Zehra. Sie stammt aus einer deutsch-türkischen Familie und ist Muslima. Zehra wundert sich, warum Michael Tränen in den Augen hat, als er vorliest.
Jesus – ein Neugeborenes in einer notdürftigen Unterkunft. Heiligabend gibt es in einer evangelisch-muslimischen Familie Kartoffelsalat und «Würstchen halal», Geflügelknacker.
Als die Kinder im Bett sind, muss es raus: «Der MP hat mich gefragt, ob ich die IS-Sklavinnen, tausend Frauen und Kinder, aus dem Irak hole.» Zehra schaut ihn schockiert an. «Was? Du?» Michael nickt. «Das werden viele gefährliche Einsätze.»
«Wie oft? Wie lange?»
«Ich weiß es nicht. Wir müssen sie finden, ihren Gesundheitszustand checken, ihnen Visa ausstellen, sie herbringen, sie unterbringen. Wahrscheinlich dauert es ein Jahr.»
Plötzlich weint seine Frau und nimmt Michaels Hand: «Wir glauben beide, dass uns Gott einmal fragen wird, was wir mit dem Elenden vor unserer Tür gemacht haben, richtig?» Michael nickt.
«Ich schäme mich, was für Verbrechen da unten im Namen des Islam begangen werden», Zehra muss schlucken, «dass diese Monster sich Muslime nennen! Aber dass du dich das traust, das beweist ja: Du bist der Mann geworden, den ich schon in der Schule in dir sah. Der Junge, den ich liebe. Also gut: Mach es! Jedes Leben zählt.»
Ein Sommerabend 1995
Michaels Eltern, aus DDR-Haft in den Westen gekommene Dissidenten, haben ihren Sohn konsequent atheistisch erzogen. «Keine Ideologie mehr, auch keine religiöse!», ist ihr Motto. Weshalb Michael nicht in den Religions-, sondern den Ethikunterricht geht. Dort verliebt er sich in Zehra Tayanc und – muss seinen Heiratsantrag auch bei ihren Eltern erfragen.
«Papa Osman, ich möchte für immermit deiner Tochter leben und bitte dich um deinen Segen.» Es entsteht eine Stille, die wir umgangssprachlich Schrecksekunde nennen, obwohl sie minutenlang sein kann. Vor dem Fenster im Garten rätscht eine Elster. Herr Tayanc lehnt sich zurück: «Du willst ein Ehemann sein, soso. Aber was glaubst du?»
Michael fährt es in den Magen. Meint Osman «Was glaubst du eigentlich, wer du bist?» oder meint er «Woran glaubst du»? «Bist du gläubig?», setzt Zehras Vater nach, «Bist du ein Christ?»
Michaels Adrenalinzufuhr schaltet auf Höchstleistung. Ist das jetzt die K.O.-Frage? Kommt jetzt die Forderung, zum Islam zu konvertieren? «Äh … ja. Ich bin auf dem Weg. Ich habe mich bei einem befreundeten Pfarrer zu einer Art, äh, Konfirmandenunterricht für Erwachsene angemeldet!»
Mutter Anne steht auf. Sie hat Tränen in den Augen, legt Michael die Hand auf die Schulter und sagt: «Oglum.» Michael weiß noch nicht, dass das ein Kosename ist mit dem Gewicht einer Quasi-Adoption.
«Hör‘, Baba», sie wendet sich an ihren Mann, «was sollen wir mit einem Türken, der vielleicht heimlich säuft oder seine Frau schlägt? Michael ist kein Muslim, aber er benimmt sich so, wie ein Mann sich verhalten sollte. Ich nehm‘ ihn als Schwiegersohn!»
Osman ist eingekreist von Menschen, die lieben. «Dann ist es in Ordnung», sagt er und sein Lächeln wächst zu einem veritablen Grinsen. Die beiden Männer umarmen sich. So also funktioniert euer Patriarchat, denkt Michael.
Als er sich kurz darauf im Konfirmationsgottesdienst evangelisch taufen lässt, bittet der Pfarrer die muslimische Deutschtürkin Zehra, seine Taufkerze anzuzünden. Woran man sich im Dorf noch heute lebhaft erinnert …
Weihnachten 2025
13 lebensgefährliche Einsätze, jeweils acht bis fünfzehn Tage lang in den damals von IS-Terroristen kontrollierten Kriegsgebieten haben rund 500 Frauen und 600 Kindern das Leben gerettet und ihnen eine Zukunft im Frieden ermöglicht.
Eine dieser nach Stuttgart gebrachten Jesidinnen bekam 2018 den Friedensnobelpreis: Nadja Murat. Sie ist inzwischen UN-Sonderbotschafterin gegen Menschenhandel. Der promovierte Religionswissenschaftler Michael Blume selbst ist heute der Antisemitismusbeauftragte der baden-württembergischen Landesregierung, ist ein vielgefragter Fachreferent für religiös-politische Themen und – mit Zehra und den drei Kindern längst jenseits der Silberhochzeit. Andreas Malessa
Ausführlich nachlesen kann man die Geschichte auch in Andreas Malessas Buch «Eine Blume für Zehra», bene-Verlag 2019, 7,99 Euro als E-Book oder antiquarisch
Zehn Bücher zu gewinnen

Wie kann man die Bibel als Mensch des 21. Jahrhunderts wertschätzen, ohne seine Vernunft an der Garderobe abgeben zu müssen? Diese Frage will Andreas Malessa, Autor des Beitrags auf dieser Seite, in seinem Buch «Und das soll man glauben?» beantworten. Das tut er fachkundig und durchweg unterhaltsam, ein leicht zu lesendes Buch, das auch noch klüger macht.
Wir verlosen zehn Exemplare. Schreiben Sie bis 10. Januar 2026 eine Karte oder E-Mail mit dem Stichwort «Bibel». Unter den richtigen Einsendungen werden die Bücher verlost.
Redaktion blick in die kirche
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«Liebe ist alles!» als E-Paper
Die Weihnachtsausgabe des «blick in die kirche»-Magazins steht ganz im Zeichen der Liebe. Sänger und Schauspieler Vladimir Kornéev («Hundertdreizehn», «Polizeiruf 110») berichtet im Interview, wie Musik ihm half, das Stottern zu überwinden, was Liebe für ihn bedeutet und wie er den Verlust einer großen Liebe bewältigte. Das Heft stellt junge und alte, hetero- und homosexuelle Paare vor, erzählt von der Liebe zum Handwerk und blickt nach Indien. Es geht um die Rettung von 1.000 Jesidinnen und Jesiden aus dem Irak.
Und natürlich dreht sich das Heft um Weihnachten: Wie ist das in einem Gefängnis? Wie, wenn man alleine feiern will oder muss? Warum ist es trotz allem Streit schön, wenn die Familie sich an Weihnachten trifft? Und was steht noch einmal genau in der Bibel? Wie immer gibt es auch einen Hotelaufenthalt zu gewinnen – diesmal in Hanau inklusive Karten für die Brüder Grimm Festspiele.
Das «blick in die kirche-Magazin» ist die Publikumszeitschrift der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und liegt viermal im Jahr den Tageszeitungen auf dem Gebiet der Landeskirche kostenfrei bei. Die Druckauflage beträgt knapp 225.000 Exemplare, hinzu kommen E-Paper und Webseite.
