Auf dem Foto von links: Farina Schmidt, Emma Wiegand und Bodo Fäcke

Im Schatten der Homberger Stadtkirche: Farina Schmidt, Emma Wiegand und Bodo Fäcke (von links) trafen sich auf Einladung von „blick in die kirche” zum Gespräch über Erinnerungen, Generationen, Glauben und die Konfirmation im Wandel der Zeiten.

blick in die kirche / Fragen & Text: Olaf Dellit
Veröffentlicht 04 Okt 2024

Die erste Erinnerung

Was ist die allererste Erinnerung?

Bodo Fäcke: Ich durfte bei meinem Vater im Friseurgeschäft rumlaufen. Und ich erinnere mich, dass ich einen Groschen bekommen habe, um mir in der Metzgerei eine Kochwurst zu holen.

Farina Schmidt: Es ist keine schöne Erinnerung: Meine Uroma ist in einem Bäckerladen leider sehr schwer gestürzt. Ich erinnere mich auch an die Zeit danach, als ich sie im Rollstuhl vor der Röntgenabteilung durch die Gegend geschoben habe.

Emma Wiegand: Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir umgezogen sind. Von der alten Wohnung weiß ich nicht mehr viel, aber bei der neuen kann ich mich erinnern, wie das Haus entstanden ist. Das ist eine schöne Erinnerung.

Die alte Stadt

Sein Leben lang hat Bodo Fäcke in Homberg gelebt, optisch habe sich in dieser Zeit in der Innenstadt gar nicht so viel verändert, nur dass es heute Leerstände gebe und kaum noch kleine, unabhängige Geschäfte: Wir hatten in Homberg mindestens sieben Fleischereien; eine ist noch da. Wir hatten wohl zehn Bäckereien; übrig ist eine. Wir hatten jede Menge Lebensmittelgeschäfte. Die sind weg. Wir hatten mal drei Buchhandlungen, eine hat überlebt.

Fäcke ärgert sich, dass zu viel online eingekauft werde, das schade den kleinen Geschäften und vor allem der Umwelt. Da ist er sich mit den Jugendlichen einig. Ich bin kein Fan von online, weil die Sachen oft nicht passen und ich sie dann zurückschicken müsste, findet Farina. Und Emma näht sich Kleidung gerne selbst.

Die Konfirmation

Bodo Fäcke wurde konfirmiert, kurz bevor das Grundgesetz erlassen wurde, im April 1949. Emma und Farina viele Jahrzehnte später. Alle drei wissen noch, was sie getragen haben. Fäcke einen braunen Anzug: der war billiger als ein schwarzer und danach zehn Jahre lang in Gebrauch; Emma ein blaues, knielanges Kleid und Farina einen Jumpsuit – ebenfalls blau.

Kirchlich gilt man ab der Konfirmation als erwachsen. Und so wird es auch bis heute erlebt, wie Emma erzählt: Ich habe oben am Schlossberg gefeiert, und für mich begann damit auch ein neuer Abschnitt. Ich habe mir gedacht: Jetzt könnte mein Leben erwachsener werden.

«Wir waren immerhin 120 Konfirmanden in meinem Ort. Gefeiert wurde grundsätzlich nur zu Hause im Familienkreis.»
BODO FÄCKE (89) ist Homberger durch und durch. Er war Verwaltungsleiter des Gruppenwasserwerks Fritzlar-Homberg. Er ist ehrenamtlich vielfältig aktiv, unter anderem in der evangelischen Kirchengemeinde.

Und Farina sagt: Ich wusste, jetzt wird etwas Neues kommen, aber noch nicht, was. Mir war klar, dass ich mit der Konfirmation zur Kirche gehöre und erwachsen werde. Aber vor allem bin ich durch den Konfirmandenunterricht zu Ten Sing gekommen. Das ist mein Glaubensweg.

Ten Sing ist eine spezielle Form christlicher Jugendarbeit mit viel Gesang und Kreativität (der Name leitet sich von «Teenager singen» ab), in Homberg in der evangelischen Kirchengemeinde.

Während sie in Farinas Konfirmandengruppe nur zu sechst waren, sah das 1949 bei Bodo Fäcke anders aus: Wir waren immerhin 120 Konfirmanden in meinem Ort. Gefeiert wurde grundsätzlich nur zu Hause im Familienkreis. Es war etwas Besonderes, wenn der Lehrer oder der Pfarrer zu Besuch kam.

Der Unterricht war damals streng, manchmal sogar «handgreiflich», wie Fäcke erzählt. Immerhin hätten die Pfarrer ein paar «unsichere Kantonisten» nur bei vorher vereinbarten Fragen drangenommen, sodass sie sicher bestanden. Es musste viel auswendig gelernt werden: Lieder, Bibelverse und anderes. Auswendig können auch Emma und Farina einiges, doch eine Prüfung gibt es nicht mehr. Stattdessen gestalteten sie einen Abschlussgottesdienst. Farina sagt: Eigentlich geht man ein Jahr aus Spaß zum Konfer-Unterricht und lernt auch noch was dabei.

Der Glauben

Die Konfirmandenzeit ist auch dafür da, sich mit dem eigenen Glauben und mit sich selbst zu beschäftigen. Gleichaltrige, berichtet Farina, fänden Kirche meistens uninteressant. Für sie und Emma ist Ten Sing der Glaubensweg, wie sie sagen.

Aber was ist das überhaupt, Farina? 

Für mich bedeutet der Glauben: Ja, Gott ist da, die Kirche ist da. Wichtig ist mir, dass der Glaube verschiedene Wege hat und es nicht nur den einen, richtigen gibt.

In seinem Leben habe der Glauben immer eine wichtige Rolle gespielt, sagt der 89-jährige Bodo Fäcke, deswegen habe er sich auch in der Kirche engagiert. Er erinnert sich aber auch an die Zeit nach der Konfirmation, wo er – wie Emma und Farina heute – lieber ausschlief statt in den Gottesdienst zu gehen.

Gibt es in einem fast neun Jahrzehnte währenden Leben nicht auch Zweifel? 

Ich bin davon überzeugt, dass man ab und zu an Gott zweifeln muss und fragt: Warum wird sowas zugelassen? Aber man kommt immer wieder auf die richtige Spur zurück.

Der Krieg

Bodo Fäcke hat die Wiedervereinigung und die Nachkriegszeit erlebt, aber auch Krieg und Nazizeit: Ich bin 1941 in die Schule gekommen. Zu Schuljahresbeginn und -ende mussten wir uns versammeln und bekamen eine Gehirnwäsche verpasst. Die endete immer mit dem Hitlergruß. Regelmäßig sei um elf Uhr morgens Fliegeralarm ausgelöst worden. Eigentlich hätten die Schüler nach Hause laufen müssen, doch Bodo und seine Freunde gingen lieber zum Schlossberg. Wir wurden dort auch von den Amerikanern beschossen. Das ist alles hängengeblieben.

Für Farina und Emma könnten das weit entfernte Erinnerungen eines alten Mannes sein, doch so ist es nicht. Es berühre sie, sagen beide, auch weil sie selbst heute so viel vom Krieg hören und sehen. Es ist nicht ganz abwegig, dass es noch einmal so kommen könnte. Mit dem Ukraine-Russland-Konflikt und in Nahost kann das passieren, sagt Farina. Und obwohl Bodo Fäcke betont, dass die Situation damals viel dramatischer gewesen sei, macht auch Emma sich Sorgen: Mir bereitet das alles Angst.

Die Veränderung

Eine große Veränderung haben alle drei schon erlebt – aber ihnen fallen ganz unterschiedliche ein. Farina denkt an die Corona-Pandemie: Auf einmal hieß es: Schule gibt es jetzt nicht mehr; wieder nach Hause! Das ging alles ganz schnell; Schlag auf Schlag.

«Auf einmal hieß es: Schule gibt es jetzt nicht mehr; wieder nach Hause! Das ging alles ganz schnell; Schlag auf Schlag.»
FARINA SCHMIDT (17) wohnt ebenfalls in Homberg. Sie besucht die zwölfte Klasse der Christophorusschule in Oberurff. Sie liest und fotografiert gerne und ist begeistertes Mitglied von Ten Sing.

Emma erzählt: Was mich persönlich verändert hat, ist Ten Sing, weil ich da ganz andere Menschen kennenlerne. Ich finde es total toll, das macht mir richtig Spaß. 

Und für Bodo Fäcke war es der Ruhestand: Das war der Moment, wo man mir gesagt hat: Du darfst nicht mehr arbeiten. Mit Vollendung des 65. Lebensjahres musste ich aufhören. Ich hätte gerne weitergearbeitet.

Trauer und Gedenken

Zu einem langen Leben gehören auch Abschiede. Wie gedenkt man der Toten?

Bodo Fäcke: In unserem Flur haben wir Fotos von allen unseren Verwandten hängen und sehen sie täglich. Wir erinnern uns besonders an sie, wenn sie Geburtstag haben. Geburtstage vergisst man nicht, die hat man ja zigmal gefeiert.

Viele Gedanken hat sich Fäcke um das Grab eines unbekannten Soldaten in Homberg gemacht: Irgendjemand hat auf einen Menschen gewartet, der hier in Homberg beerdigt wurde – und die Angehörigen wissen das nicht. Einen Ort der Trauer auf einem Friedhof findet der 89-Jährige wichtig; von Friedwäldern hält er wenig.

Emma sieht das ganz anders: Ich finde das schön, weil ich den Wald sehr mag. Und wenn man der Person einen Baum gibt, kann man den als Gedenkstätte sehen. Ein Baum steht ja für das Leben, dort kann man sich an das Leben erinnern.

«Ich finde das schön, weil ich den Wald sehr mag. Und wenn man der Person einen Baum gibt, kann man den als Gedenkstätte sehen.»
EMMA WIEGAND (15) besucht die zehnte Klasse der Theodor-Heuss-Schule in Homberg. Auch sie ist bei Ten Sing aktiv und hat zahlreiche weitere Hobbys: Geige, Schlagzeug, Karate und Nähen.

Der Ratschlag

Das Verhältnis der Generationen sehen die drei eher entspannt. Okay, Farina hat sich kürzlich geärgert, als sich eine ältere Frau beim Klamotteneinkauf einfach vordrängelte. Und Fäcke versteht nicht, warum bei manchen jungen Leuten das Handy förmlich an den Händen angewachsen sei; aber insgesamt kein Generationenstreit. Aber gibt es vielleicht eine Weisheit, einen Ratschlag, die der Erfahrene den Jüngeren mitgeben will – und umgekehrt?

Sehen Sie das Leben positiv an, auch wenn Sie mal in einer schwierigen Situation sind. Auf Regen folgt Sonne, sagt Bodo Fäcke mit fast 90 Jahren Lebenserfahrung. Und Farina, die es zu selten schafft, ihre Oma zu besuchen, empfiehlt dem mehrfachen Großvater: Verbringen Sie noch so viel Zeit mit ihren Kindern und Enkelkindern, wie es möglich ist.

Titelplatt der Ausgane "Erinnere dich" der Ausgabe 10/24 des Magazins "blick in die kirche"
Magazin als e-Paper

Das «blick in die kirche-magazin» bietet einem großen Lesepublikum viermal im Jahr ein buntes Angebot an Themen rund um Kirche und Diakonie, aber auch darüber hinaus. Jedes Heft hat ein Titelthema, das in unterschiedlichen Formen entfaltet wird. In Interviews, Reportagen, Berichten und geistlichen Texten informiert und unterhält die Redaktion die Leserinnen und Leser. Ergänzt wird das Angebot mit Ratgeber- und Lebenshilfethemen sowie dem beliebten Preisrätsel. In einer Auflage von 245.000 Exemplaren liegt das Magazin den Tageszeitungen in Kurhessen-Waldeck bei und kann online unter blickindiekirche.de als e-Paper gelesen werden.