Mindestens dreimal pro Tag muss ich unterbrechen, was ich gerade mache, und gehe mit meinem Hund James raus. Mir tut das gut. Nicht immer stoße ich dabei einen Juchzer aus. Manchmal ist es der Seufzer: „Auch das noch …!“
Aber wenn ich an der frischen Luft bin und James – so heißt unser Vierbeiner – sich wonniglich im Gras wälzt, dann habe ich ein Lächeln im Gesicht. Die Runde am Morgen, Mittag und Abend bringt mich in Bewegung – den Körper, die Gedanken, die Seele. Sie lenkt ab von dem, was gerade zu schaffen macht. Sie macht den Kopf frei oder lässt mit Abstand über die anstehende Aufgabe nachdenken.
James zeigt mir: Es gibt noch eine andere Welt, eine andere Logik als meine. Er hat seinen eigenen Willen. Das kann nerven: „Ja-hames! Komm jetzt endlich! Wir müssen weiter!“ Aber es ist heilsam zu merken: Da gibt es neben dir ein Lebewesen, das hat seine eigenen Bedürfnisse, seinen eigenen Rhythmus. Das will auch zu seinem Recht kommen. „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das auch leben will.“ Albert Schweitzers geniale Formel für die Ehrfurcht vor dem Leben. Das trainiert mein Hund täglich mit mir.
Der erste Segen Gottes in der Bibel gilt den Tieren. Gott macht die Fische im Wasser, die Vögel unter dem Himmel, die Tiere der Erde und das Gewürm im Boden. Gott segnet sie und spricht: „Seid fruchtbar und mehret euch!“. Den Regenwurm, die Mücke, den Adler, die Qualle – sie alle hat Gott geschaffen, „ein jedes nach seiner Art“, heißt es in der Bibel.
Ein jedes nach seiner Art. Die Tiere – ob domestiziert oder in freier Wildbahn – sind Gottes einmalige Geschöpfe. Sie haben ihr Lebensrecht. Sie bekommen ihren Segen, noch vor und unabhängig vom Menschen.
Ein jedes nach seiner Art. Tiere nicht vermenschlichen, ihre Eigenart respektieren. Daran muss ich mich täglich erinnern, denn ich tue es natürlich ständig. Ich projiziere meine Gefühle und Ideen auf James. Ich habe allerdings den Eindruck, er macht das umgekehrt ebenfalls. Auch ich bin für ihn eine Projektionsfläche für seine Weise, die Welt und damit auch mich wahrzunehmen. Es ist eine menschlich-tierische Win-win-Situation.
„Bei diesem Wetter jagt man doch keinen Hund vor die Tür!“ Dieser Satz steht deutlich in James‘ Augen, wenn wir das Haus verlassen und es schüttet oder die Sonne brennt. Dann stemmt er alle viere in den Boden, sollte ich weiter als notwendig gehen. Abgesehen davon erleben wir miteinander den ersten Schnee, das Schlüpfen der Gänseküken am Frankfurter Mainufer, die Morgenkühle eines Sommertags und das erste Herbstblatt, das zu Boden segelt. Den Tag nehmen, wie er kommt. Mit Hund lebt man intensiv in den Jahreszeiten und in der Natur.
In der Bibel stellt Gott im Garten Eden dem Menschen alle Tiere vor, und der Mensch gibt jedem seinen Namen. Als Hunde-Mensch gewöhnt man sich daran, dass man über den Namen seiner Fellnase identifiziert wird. „Sie gehören doch zu James“, reicht völlig, um mein Hier-Sein zu begründen. Hunde sind Netzwerker. Sie bringen ihre Menschen en passant miteinander in Kontakt. Sie sorgen für Gesprächsstoff und stiften Gassi-geh-Bekanntschaften. Vieles kann, nichts muss, denn man kann jederzeit weitergehen.
Wir haben James aus dem Tierschutz. Er ist eine Brake, genauer gesagt ein serbischer Laufhund, dreifarbig mit schwarzem Rücken, weißer Schnauze und goldbraunen Fellpartien. Als er mit eineinhalb Jahren zu uns kam, war er völlig angstbesetzt. Wir wissen nicht, was er vorher erlebt hat. Vermutlich wenig Gutes. Seine Überlebensstrategie scheint gewesen zu sein, sich möglichst unsichtbar zu machen. Es schmerzt zu sehen, wie ein Geschöpf sich so kleinmacht, versteckt und nicht traut zu zeigen, was in ihm steckt.
Es hat fast zwei Jahre gedauert, bis James vorsichtig Vertrauen gefasst hat. „Ist er gewachsen?“, werden wir jetzt manchmal gefragt. Nein, ist er nicht. Aber Vertrauen macht größer.
Pfarrer Martin Vorländer ist evangelischer Senderbeauftragter für Deutschlandradio und Deutsche Welle
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