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TaufeKonfirmationTrauung
Die Literaturverfilmung von Momo nach dem gleichnamigen Roman von Michael Ende kam 1986 in die Kinos. Momo wird darin vond er damals neunjährigen Radost Bokel gespielt.
Kassel / Olaf Dellit, blick in die kirche
Veröffentlicht 27 Jun 2025

Wir erinnern uns: In einem alten Amphitheater taucht dieses Mädchen auf. Sie wird von den Menschen im Ort versorgt, das Theater wird ein Ort der Fantasie, des Feierns und der Spiele. Doch eine unheimliche Macht breitet sich aus: die grauen Herren. Sie arbeiten angeblich für eine Zeitsparkasse und fordern die Menschen zum Zeitsparen auf. Sich um die alte Mutter kümmern, im Gesangverein singen oder gar gedankenverloren am Fenster sitzen – das geht in ihren Augen gar nicht. Sie bringen immer mehr Menschen dazu, sich all das zu sparen.

Doch an Momo beißen sie sich die Zähne aus. Als ein grauer Herr versucht, sie mit einer automatischen Puppe zu locken, entwaffnet Momo ihn mit einer einzigen Frage: «Hat dich denn niemand lieb?» Der Zeitdieb gibt das Geheimnis seiner Mitstreiter preis, die von der tiefgefrorenen Zeit der Menschen leben und sie ihnen Sekunde für Sekunde rauben.

Die Grauen erkennen, dass Momo ihnen gefährlich werden kann und wollen sie kidnappen: «Kinder sind unsere natürlichen Feinde.» Doch eine Schildkröte, eines der langsamsten Tiere der Welt also, namens Kassiopeia und Meister Hora, Verwalter der Lebenszeit aller Menschen, retten sie.

Die Diebe ändern ihre Strategie und nehmen Momos Freunde ins Visier. Der großartige Geschichtenerzähler «Gigi Fremdenführer» wird zum Star, verliert in Kommerz und Zeitdruck seine Kreativität und seine Seele. Mithilfe von Schildkröte und Meister Hora verhindert Momo, dass die Grauen an ihre Zeitvorräte kommen – sie lösen sich in Luft auf. Momo befreit die Zeit der Menschen. Bald ist das Amphitheater wieder voll mit Menschen, die feiern, spielen, reden und zuhören.

Portraitfoto von Olaf Dellit
«Man kann nur staunen, wie aktuell das Märchen ist.»
Olaf Dellit

Wer Momo heute liest, kann nur staunen, wie aktuell der «Märchen-Roman» ist. Dabei schrieb Michael Ende seine Bücher nie, um eine Botschaft zu vermitteln, wie sein langjähriger Freund und Lektor Roman Hocke am Telefon erzählt. Ende begann zu schreiben und wartete, wie die Geschichte sich entspann. Das Buch habe sieben Jahre gebraucht, sagt Hocke, erst dann habe Ende selbst gewusst, warum Momo immun gegen die bösartigen grauen Herren ist. Das bedeute aber nicht, dass gesellschaftlich relevante Themen keine Rolle gespielt hätten. «Eine ganze Welt floss in die Geschichten», beschreibt Hocke.

Natürlich ist es kein Zufall, dass die Hauptfigur ein Kind ist. Kinder, sagt Hocke, wunderten sich noch über die Welt und hinterfragten scheinbare Selbstverständlichkeiten. Und Kinder haben Zeit. «Zeit war ja das einzige, woran Momo reich war», schreibt Ende im Buch. Die Wissenschaft stützt diese Beschreibung, wie Teresa Bücker in ihrem Buch «Alle_Zeit» erläutert, aus dem sich überraschend viele Bezüge zu «Momo» ziehen lassen.

Die Erfahrung, dass Zeit für irgendetwas nicht reicht, ist demnach die letzte Stufe der Zeitsozialisierung von Kindern, bei Mädchen etwa im Alter von zwölf. Zuvor, so Bücker, erscheine Kindern «die Zeit endlos, und man kann sich treiben lassen». Zeitdruck hingegen könne immensen Stress verursachen. Friseur Fusi, Gigi und all die anderen Figuren in «Momo» wussten das schon vor einem halben Jahrhundert. Kein Wunder, sagt Ende-Freund Roman Hocke über das Buch: «Es war eine Vorwegnahme von Zukunft.» Diesen Anspruch einer «antizipatorischen Kraft von Fantasie» habe Michael Ende gepflegt.

Im Buch besiegt Momo die Zeitdiebe. Doch heute haben sie sich längst neu formiert und sind stärker als zuvor. Bücher über Zeitmanagement sind Legion. Wirtschaftsverbände fordern mehr Wirtschaftsunterricht, liest man, oder die Abschaffung eines Feiertags, um die Produktivität zu steigern. «Anstatt unsere Kinder auf die Welt von morgen vorzubereiten, lassen wir es zu, dass viele von ihnen Jahre ihrer kostbaren Zeit mit nutzlosen Spielen verschwenden.» So klang das bei den grauen Herren.

Bücker setzt dem in ihrem lesenswerten Buch einen Aufruf für eine Gesellschaft entgegen, in der Kinder einfach da sein dürften, «ohne stets daran gemessen zu werden, welche Bedeutung das, was sie gerade tun, für ihre Zukunft hat».

Die grauen Herren von heute haben ausgefeiltere Waffen. Mit der automatischen Puppe «Bibigirl», die immer neue Sachen haben wollte, waren sie noch an Momo gescheitert. Heute wäre Bibigirl eine Künstliche Intelligenz und würde auf jeden Wunsch von Momo eingehen – viel gefährlicher.

Der größte Coup der Grauen war aber ohne Zweifel die Erfindung des Smartphones, dieses janusköpfigen Geräts, das zugleich unverzichtbares Werkzeug und gnadenloser Sklaventreiber ist. Immer erreichbar, an jedem Ort ansprechbar, immer arbeitsbereit – Widerstand ist nicht zwecklos, aber auch nicht leicht. Teresa Bücker zitiert eine Studie, nach der Menschen alle fünf Minuten ihr Handy zur Hand nehmen – im Schnitt.

«Im Zuhören ist auch etwas von Nächstenliebe.»
Roman Hocke

Zugleich gibt es Momos Geheimwaffe immer noch; jeder und jede kann sie nutzen, wenn er oder sie bereit ist, nicht nach ökonomischem Nutzen zu fragen. «Man muss sich Zeit nehmen, um zuzuhören, und weiß nicht, ob es einem etwas bringt», sagt Ende-Vertrauter Roman Hocke. Und er schlägt einen Bogen zu einem zentralen Wert der christlichen Botschaft: «Im Zuhören ist auch etwas von Nächstenliebe.»

Spannend ist in diesem Zusammenhang ein Gedanke Endes, von dem Hocke erzählt. Wer ist Momo eigentlich? Niemand weiß, wo sie herkommt. Und auf die Frage nach ihrem Geburtstag antwortet sie: «Soweit ich mich erinnern kann, war ich schon immer da.» Das, sagt Hocke, kann man als eine kindliche, naive Perspektive lesen. Oder aber Momo sei in Wirklichkeit ein Engel, der die Menschen erlösen soll.

Wo also ist Momo heute, wo wir sie so dringend brauchen? Die Lösung im Kampf gegen die grauen Herren steht im Buch. Meister Hora erklärt Momo irgendwann, dass es die Zeitdiebe nur gibt, weil die Menschen ihre Existenz ermöglichen. Und sie müssen den Kampf selbst führen: «Was die Menschen mit ihrer Zeit machen, darüber müssen sie selbst bestimmen. Sie müssen sie auch selbst verteidigen.»

Autorin Teresa Bücker ist eine solche Kämpferin. In «Alle_Zeit» entwirft sie ein Modell für eine «zeitgerechte» Gesellschaft und beschreibt ihre Idealvorstellung so: «Zeit (…) liegt am Morgen vor uns wie ein Berg bunter Bauklötze, aus denen sich jeden Tag das eigene Leben als etwas Vertrautes, Neues, Eigenes und immer wieder auch Unerwartetes und Gemeinschaftliches zusammensetzen lässt.»

Einer dieser bunten Bausteine könnte sein, endlich oder erneut «Momo» zu lesen. Nehmen Sie sich die Zeit! 

Bücher
  • Michael Ende: Momo (unterschiedliche Ausgaben ab 9,50 Euro)
  • Theresa Bücker: Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit, Ullstein, 14,99 Euro
Das Titelblatt "Alles hat seine Zeit" der Magazin-Ausgabe zeigt ein Uhrwerk
«Alles hat seine Zeit» als E-Paper

Mit Höflichkeit, Freundlichkeit und Respekt möchte ZDF-Star Horst Lichter seine Zeit füllen. Das sagte er im großen Interview mit dem aktuellen blick in die kirche-Magazin. Das Titelthema «Alles hat seine Zeit» greift ein Bibelwort aus dem Alten Testament auf – und ist dennoch hochaktuell, wie die Beiträge im Heft zeigen: Wann ist die richtige Zeit für Ehe und Kinder? Wie nutzt man die Zeit im Alter am besten? Wie prägen Jahreszeiten und Wetter den Zeitplan in der Landwirtschaft? Und welches Verhältnis zu Minuten und Sekunden hat Weltklasseläuferin Dr. Laura Hottenrott?

Diese und viele andere Fragen greift das Magazin auf. Leserinnen und Leser erfahren außerdem, was es mit dem «Stunden-Nachschlag» auf sich hat, wo mehr als 30 Turmuhrwerke ticken – und an welcher Kirche gleich sechs Sonnenuhren angebracht sind. Vorgestellt wird auch die imposante Kaufunger Stiftskirche, die genau 1.000 Jahre alt ist. Zudem gibt es ein Wiedersehen mit der Kinderbuchheldin Momo und ihrem Kampf gegen die Zeitdiebe – sowie einen vertiefenden Blick in die Bibel.

Das blick in die kirche-Magazin erscheint vierteljährlich in einer Auflage von 225.000 Exemplaren als Beilage der regionalen Tageszeitungen in Kurhessen-Waldeck. Es bietet Interviews, Reportagen, geistliche Impulse sowie Lebenshilfe und Ratgeberthemen – ergänzt durch ein beliebtes Preisrätsel.