Die Aufforderung «Mögen Sie ein bisschen mehr erzählen?» hören Ratsuchende in der Telefonseelsorge häufig, wenn sie einen Anfang gefunden und ihr Gesprächsanliegen genannt haben. Wir alle erzählen unsere Geschichten und Erinnerungen am liebsten Menschen, die gut zuhören können und die an uns interessiert sind.
Die Vorstellungskraft beider ist hierbei gefragt und es entsteht ein Erzählraum, der miteinander geteilt wird und in dem innere Bilder und Gefühle produziert werden. Manchmal können Geschichten durch das Erzählen sogar neu bewertet werden.
Der Umgang mit Erinnerungen kann vielfältig sein: Da ist der Mann, der sich nicht erinnern kann. All das, was ihn ausmacht und wodurch er zu dem wurde, der er ist, ist in einer Art Nebel verschwunden und vergessen. Seine Frau, unsere Anruferin, leidet unter der Demenzerkrankung ihres Mannes. Sie erzählt, wie weh es tut, sich nicht mehr gemeinsam erinnern zu können, es fühlt sich so an, als hätte sie ihren Mann schon verloren, obwohl er noch lebt.
Da ist die junge Frau, die sich ebenfalls nicht erinnern kann, aber aus einem anderen Grund, denn zu schmerzhaft sind die Verletzungen der Vergangenheit, die Verdrängung der traumatischen Erlebnisse in ihrer Kindheit dient zu ihrem Selbstschutz. Sie ruft regelmäßig bei der Telefonseelsorge an.
Wieder eine andere Anruferin lebt fast ausschließlich in ihren Erinnerungen, sie erzählt von ihrem früheren Leben und fühlt sich in ihrer Vergangenheit mehr beheimatet als in ihrem jetzigen Leben. Wir wissen, dass das, was gefühlsmäßig bedeutsam war, leichter erinnert wird. Prägende Erfahrungen an Lebensübergängen werden erinnert, Leid und Liebe bleiben im Gedächtnis. Erinnerungen sind in der Regel nicht deckungsgleich mit unseren Erfahrungen, Erfahrungen werden zwar zur Erinnerung, aber Erinnerungen verändern sich auch im Laufe der Zeit.
Wieso ist Erinnerung so wichtig für uns Menschen? Der Erinnerungsforscher Daniel Schacter ist überzeugt davon, dass unser Ich-Gefühl heute entscheidend von der Erinnerung an unsere Vergangenheit abhängt. Wir sind also die, die wir aufgrund früherer Erfahrungen geworden sind. Wir sehen unsere Person durch unsere Erinnerungen so in einem in sich logischen, zusammenhängenden und für uns nachvollziehbaren Ganzen.
Im Netz der Erinnerungen wird die Essenz unseres Lebens erfahrbar, unsere Identität wird sichtbar, so beschreibt die Psychoanalytikerin Verena Kast die Bedeutung von Erinnerungen.
Der Blick zurück und das Erzählen von Erinnerungen kann eine kraftspendende Ressource sein, gerade dann, wenn Menschen sich auch an Positives erinnern können. So ist es kein Zufall, dass in Psychotherapien in der Regel mit Erinnerungen gearbeitet wird. Manchmal ist es eine gute Idee, das ratsuchende Gegenüber zu ermutigen, Erinnerungen aufzuschreiben. Denn manchmal schreibt man sich damit gute Erinnerungen auch ein wenig ins Herz. Erinnern kann so zu einer dankbaren Haltung dem Leben gegenüber helfen.
An was erinnern Sie sich? Wem mögen Sie ein wenig mehr von sich und Ihren Erinnerungen erzählen?
Die Telefonseelsorge
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