Sechs Jahre nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat dessen Nachfolger Mark Weinmeister an das politische und persönliche Vermächtnis seines Vorgängers erinnert. «Für uns ist es ganz wichtig, das Erbe und das Andenken an Walter Lübcke wachzuhalten», sagte Weinmeister in einem Gespräch mit dem Medienhaus der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW). Die Umstände, die zu seinem Tod geführt hätten, seien so gravierend, dass man sich ihrer immer wieder bewusst werden müsse: «Das war ein feiger Mord an jemandem, der für seine Überzeugung eingestanden ist.»
Weinmeister und Lübcke kannten sich seit 1999 aus ihrer gemeinsamen Zeit im hessischen Landtag. «Walter war jemand, der – glaube ich – wie kein anderer auf Menschen zugehen konnte. Er war sehr bodenständig […] und hatte eine besondere Art von Humor», so Weinmeister. Besonders eindrücklich sei für ihn geblieben, wie Lübcke sich in der Flüchtlingskrise 2015 für humanitäre Werte stark machte: «Ganz deutlich hat er gesagt: Wir leben hier in einem Rechtsstaat, in dem Menschenrechte sehr hochgestellt sind.»

Kirche als zivilgesellschaftlicher Akteur in der Demokratie
Im Gespräch hob Weinmeister die Bedeutung der Kirche für das gesellschaftliche Miteinander und demokratische Zusammenleben hervor. «Kirche per se hat den Auftrag, Menschen zusammenzuführen», erklärte er. Dieser Auftrag gelte nicht nur im religiösen Sinne, sondern auch für die soziale Gemeinschaft: «Menschen zum Gottesdienst zu führen, aber auch in die Gemeinschaft. Das Wort Gemeinschaft ist […] ein ganz wichtiger Punkt.»
Diese verbindende Funktion erfülle die Kirche durch das Engagement ihrer Mitglieder: «Pfarrerinnen und Pfarrer, aber auch alle anderen, die in der Kirche tätig sind, die vielen Ehrenamtlichen, die sich dort engagieren – das sind natürlich Leute, die bereit sind zu sagen: okay, ich engagiere mich für diese Gemeinschaft.»
Gleichzeitig warnte Weinmeister davor, diese gesellschaftliche Rolle der Kirche geringzuschätzen: «Es ist leider so, dass Kirche als verbindendes Element, als Institutionskirche, von immer weniger Menschen als etwas angesehen wird, was für sie unterstützenswert ist.» Und trotzdem sei ihre Aufgabe noch immer wichtig. Für Weinmeister erscheint es paradox: Auf der einen Seite würden Leute sagen, «Kirche ist mir nicht mehr wichtig» und treten aus. Auf der anderen Seite – wenn Kirche sich dann zurückziehen müsse, etwa bei Kindergärten oder Sozialstationen, sei das Entsetzen groß.
Auch zur politischen Dimension der Kirche bezog der Regierungspräsident klar Stellung: «Wenn Kirche Menschen zusammenführen will, muss sie aufpassen, nicht parteiisch zu sein, sondern Kompromisse zu ermöglichen. Aber Kirche ist Teil der Gesellschaft – und damit auch politisch. Das ist meine Auffassung.» Es gebe kirchliche Entscheidungen, die er begrüße – und andere, bei denen er anderer Meinung sei, so Weinmeister. «Aber in einer Gesellschaft muss man sich äußern können – mit dem Ziel, möglichst viele Menschen mitzunehmen.»

Mark Weinmeister (r.) im Gespräch mit Medienhaus-Redakteur Olaf Dellit. Das Foto entstand beim Interview im Kasseler Regierungspräsidium.
Demokratie lebt vom Kompromiss
Über die Rolle der Zivilgesellschaft hinaus betonte Weinmeister die Bedeutung von Kompromissbereitschaft für das Funktionieren demokratischer Prozesse. Demokratie lebe vom Streit in der Sache, aber auch vom Zusammenführen: «Ich muss mich von der Illusion verabschieden, dass es Entscheidungen geben kann, die alle gut finden. […] Das nennt man Kompromiss. Für mich ist der Kompromiss die Basis einer demokratischen Gesellschaft.»
Kritisch äußerte er sich über populistische Haltungen: «Heute entsteht oft der Eindruck: Entweder ich setze meine Meinung zu 100 Prozent durch – oder es ist nicht mehr meine Entscheidung.» Das gefährde die demokratische Kultur.
Am Ende des Gesprächs erinnerte sich Weinmeister mit einem Schmunzeln an eine Anekdote, die typisch für Lübcke war: «Er sagte mal zu mir: ‚Du bist jetzt hier Abgeordneter mit mir zusammen, also musst du auch ein bisschen patriotisch sein. Hast du die Nationalhymne auf deinem Handy?‘ Er [Lübcke] sagte: ‚Ja klar habe ich sie‘, spielte seinen Klingelton ab – und es war das Waldecker Lied. Das war Walter Lübcke.»
rp-kassel.hessen.de

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